Der große Religionsphilosoph Eugen Biser (*1918) stellt fest, dass das Johannes- Evangelium die "Gralsburg" unter den vier Evangelien wäre: ein streng konstruiertes Bauwerk, voller Rätsel und Geheimnisse in seinem Inneren. Johannes, soweit wir ihm dieses Evangelium zuordnen können, ist tatsächlich der Mystiker unter den Evangelisten, der ganz in den inneren Bereich unseres Glaubens vorzudringen sucht. Das geschieht in sehr bildhafter bewegter Form: "Ich bin das Brot des Lebens", letzten Sonntag hörten wir: "Ich binder wahre Weinstock." (Joh. 15,5). Heute sind all diese Bilder zusammengefasst in dem Satz: "Gott ist die Liebe." (1 Joh. 4,8) und: "Liebt einander!" (Joh. 15,17).
Gelebte Liebe, Freundschaft
Der Hintergrund dieser Sätze ist erschütternd, menschlich kaum fassbar. Jesus spricht wenige Stunden vor seiner Gefangennahme, vor seiner Verlassenheit und seinem Tod am Kreuz von Liebe. Wo bleiben all die Wegbegleiter, die Freunde? Menschlich betrachtet müssten doch Enttäuschung, Zorn auf die Feiglinge und Verräter, auf die Laxheit mancher Jünger die Oberhand gewinnen. Wer so erbärmlich mieses Verhalten erlebt, würde wahrscheinlich Rechenschaft fordern, um eventuell wieder Freundschaft aufzunehmen. Beziehungswunden heilen nur sehr sehr schwer. Von all dem sagt aber das Evangelium nichts. Stattdessen hören wir: "Ihr seid meine Freunde, weil ich euch alles geoffenbart habe, was ich vonmeinem Vater gehört habe." (Joh.15,15).
Hier wird die innige Verbindung von Vater und Sohn deutlich, die sich auf alle Menschen, aller Generationen und Zeiten überträgt, sofern sie diese Botschaft der Liebe und des Vertrauens annehmen. Wer als FreundIn bezeichnet wird, hat Zugang zum ganz persönlichen Lebensbereich seines Mitmenschen und erfährt auch einen großen Vertrauensvorschuss ohne Vertrag, ohne rechtliche Absicherung. Das Liebesgebot des Ersten Testaments wird durch den Menschen Jesus, seinen Lebensweg, sein Leiden, Tod und Auferstehung in einer Weise entfaltet, wie sie keine andere Religion anzubieten hat.
Sehnsucht nach Liebe
Im Grunde seines Herzens sehnt sich jeder Mensch nach Liebe, Friede und Harmonie. Aber warum ist der Weg dorthin so beschwerlich, für manch einen scheinbar unerreichbar? Was ist Liebe? Eine ganz geheimnisvolle Macht, Gefühle sind nur Teilaspekte davon, sicherlich nicht unwesentlich. Vielfach hat man diesen Begriff vertont, verdichtet oder sonst wie künstlerisch gestaltet.
Als Jugendlicher hörte ich oft am Samstagabend die sogenannte Hitparade. Durch lange Zeit führend war der Schlager von Connie Francis: "Die Liebe ist ein seltsames Spiel." Der Text sagt weiter: "Sie kommt und geht von einem zum andern. Sie nimmt uns alles, doch sie gibt auch viel zu viel. Die Liebe ist ein seltsames Spiel…Wir trafen und wir lieben uns seit Jahren, die Zukunft schien uns sonnenklar. Fast wären wir zum Standesamt gefahren bis alles plötzlich so verändert war. . . Die Liebe ist ein seltsames Spiel" - Kann man "Liebe" wirklich nur als "Spiel" bezeichnen?
Liebe macht, wie der Text zeigt, sehr oft blind. Ich glaube aber auch, dass Liebe sehend und sehr gut beobachtend machen kann. Jesu Lebensbeispiel ist das beste Zeugnis dafür, wenn er sich gerade jenen zuwendet, die die Gesellschaft ausgrenzt: den Zöllnern, den Dirnen, den körperlich und /oder geistig Hilfsbedürftigen. Er holt herein, die unmündig sind, also jene, auf die in der Gesellschaft niemand hört.
Grenzenlose Liebe
"Liebt einander!" Dieses Wort gilt wohl als Nagelprobe für heute, in Zeiten der Arbeitslosigkeit, des wachsenden Misstrauens in der Finanz- und Wirtschaftskrise, in einer Zeit der beginnenden Entsolidarisierung und einer großen Ängstlichkeit.
Liebe ist grenzenlos, braucht keine Gesetze, sondern will die kleinen Aufmerksamkeiten, die wir als ganz persönlich empfinden, mehr in unseren Alltag rücken: das heilende anerkennende Wort, das besser wirkt als manche Medizin, das selbst gebastelte Geschenk eines Kindes, eine liebevoll von Kleinkinderhand hingekritzelte Zeichnung etc. Liebe ist Beziehungsgeschehen, soziale Großmacht, Auftrag Jesu an uns. Diese Macht der Liebe ist Grundlage des Reiches Gottes.
In Brautgesprächen und Vorbereitung zur Hochzeit lege ich gerne einen Text vor, von dem ich nicht mehr weiß, wo ich ihn gefunden habe. Dieses Gedicht übersetzt meiner Meinung nach am besten die Stelle des heutigen Evangeliums in unsere Tage:
Ich habe Gott noch nicht gesehen.
Doch wenn er deine Schönheit ausgesonnen hat,
dann muss er unvorstellbar schön sein.
Ich habe Gott noch nicht gehört.
Doch wenn er dir den Klang der Stimme gab,
dann muss sein Sprechen eine Wohltat sein.
Ich habe Gott noch nicht entdeckt.
Doch wenn er dich erfunden hat,
dann muss er unbegreiflich gut sein.
Ich habe Gott noch nicht bewiesen.
Doch wenn er dir die Kraft zur Liebe gab,
dann muss er unvergleichbar lieb sein.
Ich habe Gott noch nicht berührt.
Doch wenn er dich und mich mit seiner Hand beschützt,
dann soll er bitte immer unser Wegbegleiter sein.