Was bleibt von Ostern 2010
Das relativ unfreundliche Wetter an den beiden Osterfeiertagen hat viele Menschen daran gehindert, dem üppigen Osteressen mit entsprechender Bewegung in der frischen Luft entgegen zu wirken. So ist zu befürchten, dass der eine oder andere länger mit dem Feiertagsspeck zu kämpfen hat als in anderen Jahren.
Mancher zehrt vielleicht noch einige Tage von den spirituellen Erfahrungen der Karwochen- und Osterliturgie. Andere konnten vielleicht den einen oder anderen wohltuenden Impuls der Fastenzeit in die nachösterliche Zeit hinüber retten.
Nach jedem größeren Fest stellt sich die Frage: Was bleibt? Wenn nichts geblieben ist, liegt es nahe, das nächste Fest mit weniger Aufwand und Engagement zu begehen.
Ostern 2010 war für viele Christen überschattet von den Diskussionen um Fälle sexuellen Missbrauchs, erzieherischer Gewaltanwendung und von seelischer Grausamkeit an kirchlichen oder kirchennahen Einrichtungen in der Vergangenheit. Da sind vielleicht manche froh, wenn das Interesse an diesen Vorkommnissen mit der Zeit abebbt und die negativen Schlagzeilen aus der Öffentlichkeit verschwinden. Für andere ist dies vielleicht gar Anlass, der Kirche den Rücken zu kehren.
Genügt es, dass wir in unseren Buß- und Klagegottesdiensten unseren Schmerz und die Wut vor Gott gebracht haben? Wird es weitergehende Konsequenzen geben oder hoffen wir, dass früher oder später Gras darüber wächst? "Was bleibt?" fragen wir auch in diesem Zusammenhang.
Was bleibt von Ostern des Jahres 30 (ca)?
Um die Frage "Was bleibt?" geht es auch im Evangelium des Weißen Sonntags. Am Ostertag selbst noch erscheint der Auferstandene den Jüngern, sofern sie sich nicht schon in alle Richtungen zerstreut hatten, und zeigt sich ihnen als Auferstandener mit den sichtbaren Spuren seiner Hinrichtung. Die Überraschung und Freude der Jünger ist entsprechend groß.
Er ist aber nicht gekommen, um mit seinen Freunden eine Wiedersehensparty zu feiern. Jesus verbindet sein Erscheinen aber mit einem Auftrag: "Empfanget den Heiligen Geist! Wem, ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert."
Wie wichtig ihm dies ist, erkennen wir aus der Einleitung: "Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch." Die Aussendung der Jünger ist Fortsetzung seiner eigenen Sendung. Seine Friedens- und Versöhnungsmission soll ihre Fortsetzung in der Friedens- und Versöhnungsmission der Jünger erfahren.
Sein Programm, das ihn ans Kreuz gebracht hat, kann als Theologie der Barmherzigkeit übertitelt werden. Er hat seinen Zuhörern Gott als barmherzigen Vater gepredigt. Er hat im Namen Gottes die Vergebung der Sünden zugesagt. Mit den Pharisäern und Schriftgelehrten führte er heftige Auseinandersetzungen über deren Programm, das vor allem Gerechtigkeit sucht. Nun fordert er seine Jünger auf, sein Konzept der Barmherzigkeit weiter zu tragen.
Gerechtigkeit als Prinzip
Barmherzigkeit und Gerechtigkeit stehen sich auch heute noch spannungsgeladen gegenüber.
Mit Recht sind wir stolz auf die Errungenschaften moderner Rechtsstaatlichkeit. Wir sind froh, dass es unabhängige Gerichte gibt, vor denen alle Staatsbürger gleich sind und vor denen sich gegebenenfalls auch die verantworten müssen, die an den Hebeln der Macht stehen. Relativ neu ist, dass auch internationale Gerichtshöfe eingerichtet werden, vor denen sich Politiker und Militärverantwortliche rechtfertigen müssen.
So sehr ich diese Entwicklung der Rechtspflege begrüße, machen mir auch deren Grenzen Sorge. Hinter manchen gerichtlichen Entscheidungen sehe ich die Illusion, man könne die Schuldfrage mit Wiedergutmachungszahlungen, Geldbußen oder Freiheitsstrafen lösen. Schuld kann so einfach nicht getilgt werden. Wohin mit den Schuldiggesprochenen? Wegsperren ist oft eine unumgängliche Schutzmaßnahme. Damit ist aber die Schuld selbst noch nicht aus der Welt geschafft.
Die damit einhergehenden Probleme werden aber auch nicht durch naive Großzügigkeit gelöst. Hier öffnet sich ein weites Feld für politische Debatten.
Jesus versuchte in seinem Leben, auch den Schuldiggewordenen mit Barmherzigkeit zu begegnen. Er hat sie nicht von Schuld freigesprochen. Er hat Schuld nicht verharmlost. Er hat aber Wege gesucht, den Schuldiggewordenen neue Lebenschancen zu eröffnen.
Neue Wege der Barmherzigkeit
Hier sehe ich nach wie vor eine große Herausforderung an die Jünger Jesu heute, an seine Kirche. Es gilt, heute Wege zu finden, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit miteinander zu verbinden. Die Vorwürfe an die Kirche, mit den verschiedenen Arten von Missbrauch in der Vergangenheit fahrlässig umgegangen zu sein, lassen vermuten, dass wir in der Vergangenheit damit mehr blauäugig als professionell umgegangen sind.
So sehr ich das Sakrament der Versöhnung schätze, müssen wir uns bewusst sein, dass es nicht dazu geeignet ist, krankhafte Neigungen oder Persönlichkeitsdefizite zu korrigieren. So sehr ich das Sakrament der Priesterweihe schätze, es entfaltet vor allem dort seine Kraft, wo auch die menschlichen Voraussetzungen gegeben sind. Ähnliches ist wohl auch vom Sakrament der Ehe zu sagen. Allein auf die Kraft der Sakrament zu vertrauen und nicht zugleich auch deren natürliche Grundlagen zu pflegen, wird ihren großartigen Möglichkeiten nicht gerecht.
Der Druck der Öffentlichkeit, der gegenwärtig auf die Kirche ausgeübt wird, kann durchaus heilsam sein. Was die Humanwissenschaften über die Entwicklung und Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit in den letzten Jahrzehnten erarbeitet haben, wird nur sehr zögerlich in das seelsorgliche Handeln der Kirche eingebracht. Hier besteht offensichtlich Nachholbedarf.
Aber umgekehrt müssen wir uns hüten, vom Prinzip der Barmherzigkeit Abstriche zu machen. Es braucht barmherzigen Umgang mit den Opfern. Das an ihnen geschehene Unrecht schreit nach wie vor zum Himmel, und es müssen Wege gesucht werden, wie ihre Wunden geheilt werden können.
Ich bin aber überzeugt, dass weder Zeit noch Geld allein diese Wunden werden heilen können. Es braucht auch einen barmherzigen Umgang mit den Schuldiggewordenen. Schuldsprüche, Wiedergutmachungsforderungen und Ächtung der Schuldigen allein werden dem Anspruch Jesu nicht gerecht.
Was bleibt zu tun?
Wenn wir Ostern ernst nehmen, bleibt uns auf jeden Fall die Sendung Jesu: "Empfanget den Heiligen Geist! Wem, ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert". Diesem Auftrag haben wir mit den Mitteln und Möglichkeiten unserer Zeit gerecht zu werden, und er bedarf des Zusammenwirkens aller Kräfte guten Willens.
Was bedeutet dies konkret? Der Prozess der Versöhnung ist mit einer guten Beichte noch nicht abgeschlossen. Es ist Aufgabe aller, die sich auf den Spuren Jesu wissen, für alle Beteiligten lebensfördernde Bedingungen zu schaffen; für die Geschädigten, die Schuldigen und für alle, die mit ihnen zusammenleben. In einem Lied der Siebzigerjahre lautete der Refrain: "Ja, dann geht die Liebe erst an." Wenn wir diese Überlegungen auch auf die Inhalte unserer Osterbeichten übertragen, dann haben wir alle ein volles Programm - nicht nur der Papst und die Bischöfe.