Lesung aus dem Buch Jesaja:
So spricht Gott, der Herr:
Siehe, das ist mein Knecht, den ich stütze;
das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen.
Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt,
er bringt den Nationen das Recht.
Er schreit nicht und lärmt nicht
und lässt seine Stimme nicht auf der Gasse erschallen.
Das geknickte Rohr zerbricht er nicht
und den glimmenden Docht löscht er nicht aus;
ja, er bringt wirklich das Recht.
Er verglimmt nicht und wird nicht geknickt,
bis er auf der Erde das Recht begründet hat.
Auf seine Weisung warten die Inseln.
Ich, der HERR, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen,
ich fasse dich an der Hand.
Ich schaffe und mache dich
zum Bund mit dem Volk,
zum Licht der Nationen,
um blinde Augen zu öffnen,
Gefangene aus dem Kerker zu holen
und die im Dunkel sitzen, aus der Haft.
Dieser Text wird Deuterojesaja zugeschrieben, einem unbekannten Propheten aus der Zeit der Babylonischen Gefangenschaft, als sich schon die Befreiung anbahnt. So spricht Deuterojesaja tröstend zu seinem Volk. Die Kapitel 40-55 werden nach ihren ersten Worten auch "Trostbuch Israels" genannt (vgl. die Alternativlesung des heutigen Tages Jes 40,1-5. 9-11). Beim vorliegenden Text handelt es sich um das erste der sog. "Gottesknechtslieder", die einen vollkommenen Jünger Jahwes vorstellen. Umstritten ist, ob es sich hierbei um die Personifikation der Gemeinde Israels, um eine Person der Vergangenheit oder Gegenwart wie etwa Deuterojesaja selbst oder den erwarteten Messias handelt. Die urchristliche Predigt und die Auswahl als heutige Lesung bezog den Text auf Jesus.
Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage macht die Beschreibung des von Gott Beauftragten den Willen Gottes deutlich: Plastische Bilder und leidenschaftliche Worte zeigen, auf welche Weise Gott unsere Befreiung erreichen will und wie unser Heil aussehen soll. Der Gesandte Gottes will nicht wie ein fanatischer Heilsprediger Menschenmassen aufputschen und für seine Ideologie gewinnen (Vers 2). Stattdessen wendet er sich dem Einzelnen und Unvollkommenen zu und gibt ihm eine neue Chance (Vers 3) - anders als Moralprediger mit dem Standpunkt "Alles oder nichts!". Diese Behutsamkeit geht aber auch mit Ausdauer einher (Vers 4).
Die starken Bilder in Vers 7, die Jesus auch in seiner "Antrittspredigt" in der Synagoge von Nazareth zitiert (Lk 4,18), sprechen tiefgehende menschliche Erfahrungen von Befreiung an.
"Blinde Augen zu öffnen" kann bedeuten, vor eigenen "blinden Flecken" nicht länger die Augen zu verschließen und so seine Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Auch offene Augen für die Freuden und Nöte unserer Mitmenschen zu bekommen oder in ausweglosen Situationen neue Wege zu entdecken, können solche Heilungserfahrungen sein.
"Gefangene aus dem Kerker zu holen" meint unter anderem die Befreiung aus eingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern, die ein erster Schritt sein kann, um verfahrene Situationen und Beziehungen zu lösen. Dazu zählt auch, wenn Menschen in einengenden Strukturen und Rollen in Familie, Beruf und Gesellschaft allmählich mehr Freiheit erfahren können.
Die Befreiung derer, "die im Dunkel sitzen", umfasst die Überwindung von Lebensphasen, die von Leid, Schmerz, Trauer, Einsamkeit und Angst geprägt sind.
All diese biblischen Bilder führen uns vor Augen, welches erfüllte Leben Gott für uns will. Um dies schon in diesem Leben zu verwirklichen, schickt er seine Beauftragten - und das kann jeder Mensch sein, der uns begegnet und uns zu mehr Freiheit führt.
Claudia Simonis-Hippel, in: Bernhard Krautter/Franz-Josef Ortkemper (Hg.), Gottes Volk Lesejahr C 2/2006. Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2006, S. 42-54.
Die Lesung ist ein Ebed-Jahwe-Lied (Knecht-Gottes-Lied). Ursprünglich wohl selbständig überliefert, gehören sie im Kanon der hebr. Bibel zum Buch des (2.) Jesaja (Jes. 40-55 - Exilszeit).
Jahwe stellt seinen Knecht zunächst vor: "Seht, das ist mein Knecht." Die Figur, die dazu passt, ist uns jedoch verborgen. In der Auslegungsgeschichte variieren die Vermutungen: war es eine einzelne Person? Oder vielleicht sogar das ganze Volk Gottes? Jedenfalls wird in der Vorstellung (mit dem Imperativ "Seht" eingeleitet) ein Gesicht erkennbar, dass in der christlichen Rezeption die Züge des Kyrios trägt, von dem es im Hymnus (Phil 2,6-11) heißt, er habe göttliche Gestalt gehabt...
Was enthält die Gottesrede über den Knecht? Er wird von Jahwe gestützt, er ist von Jahwe erwählt, an ihm findet Jahwe Gefallen, Jahwe hat seinen Geist auf ihn gelegt - und unvermittelt und überraschend: Jahwes Knecht bringt den Völkern das Recht. Er ist mit der höchsten Autorität ausgestattet, um den Völkern das Recht zu bringen. Jahwe selbst erscheint so als Garant des Rechtes.
In der hebräischen Sprache gehören Recht, Gerechtigkeit, Frieden, Heil zusammen. Der Knecht Jahwes ist Heilbringer für die Völker. Das bringt einen neuen Ton in die prophetische Botschaft, die sich an das Volk Israel in der Fremde richtet. Ob Israel In Babylon eine neue Rolle übernehmen soll? Nicht die Rolle des Opfers, sondern des Friedensstifters?
Der Knecht zerbricht das geknickte Rohr nicht, er löscht den glimmenden Docht nicht aus, er (selbst) wird nicht müde und bricht nicht zusammen - bis er auf der Erde das Recht begründet. Zur Krone des Ganzen wird: (Selbst) die Inseln warten auf ihn.
Jahwe sichert dem Knecht seine Berufung zu, überreicht ihm sozusagen die Ernennungsurkunde. Was Recht heißt, wird hier in einer umfassenden und universalen Aufgabe beschrieben: Bund für mein Volk - Licht für die Völker. Vertieft: blinde Augen zu öffnen, Gefangene zu befreien, alle, die im Dunkel sind, ins Licht zu führen.
In der lukanischen Jesus-Erzählung (Evangelium) werden Ebed-Jahwe-Lieder besonders an zwei Stellen aufgelesen: Einmal im Lobgesang des Zacharias (Benedictus), Lk 1,67-79, und zum anderen in der ersten Predigt Jesu in Nazareth, Lk 4,16-21. Die Geschichte Jesu wird so fest mit den Ebed-Jahwe-Liedern verknüpft.
Im ersten "Gottesknechtlied" (Jes 42,1-9) erfolgen die Vorstellung und Beauftragung des Knechtes. Er ist gewissermaßen das Werk Jahwes, von ihm erwählt und sein Knecht. Im Mittelpunkt steht aber nicht das "Untergebensein" des Knechtes, sondern die Zugehörigkeit und Geborgenheit beim Herrn. Dieser Knecht findet seine Aufgabe und Bestimmung - ähnlich wie bei Mose oder David - im "Dasein" für andere. Gott präsentiert ihn wie einen König (vgl. 1 Sam 9,15-17) und erwählt ihn frei aufgrund seines Willens - ohne jegliche Vorleistungen durch den Knecht. Die Rede von seiner Erwählung dient der Legitimation des Knechtes und der Begründung seiner Aufgabe.
Weil Gott an ihm Gefallen gefunden hat, erwählte er ihn. Diese Erwählung durch Gott läßt sich ebensowenig wie die Erwählung Israels hinterfragen. Diese Erwählung gilt aber nicht nur dem hier vorgestellten Knecht, denn es handelt sich nicht um eine vorübergehende Erwählung - wie beispielsweise bei den Richtern - sondern sie ist als dauernde Gabe, als besondere Form des "Mitseins Jahwes", zu sehen, die sich zugunsten anderer auswirkt.
Claudia Simonis-Hippel (2013)
Manfred Wussow (2008)
Bernhard Zahrl (1998)