Die Geschichte vom Richter und der Witwe ist eine Parabel. In ihr wird, kennzeichnend für diese literarische Form, eine Geschichte mit überraschenden Elementen erzählt, die dann einen unerwarteten Ausgang nimmt.
Zur textlichen Überlieferung:
Was die textliche Gestalt der Parabel angeht, darf man annehmen, dass der einleitende Satz: "Jesus sagte ihnen durch ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten", vom Evangelisten der Parabel voran gestellt worden ist. Darin kommt zum Ausdruck, dass wir im Beten nicht müde und mutlos werden sollen, auch wenn wir nicht gleich oder so, wie wir es uns vorgestellt haben, erhört werden. Wenn es auch ein Logion Jesu ist, so kann es nicht die Prämisse der Parabel sein. Denn es drückt etwas anderes aus als das, was wir in Vers 7 lesen, wo der Herr fragt: "Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern zögern (zu helfen)? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich Recht verschaffen." Gott erhört uns, ohne zu zögern. Unverzüglich. In Bälde wird er denen zu ihrem Recht verhelfen, die Tag und Nacht zu ihm schreien. Das ist die Grundaussage dieser Parabel.
Vieles spricht dafür, dass auch der letzte Satz (Vers 8b) kein ursprünglicher Bestandteil der Parabel war. Dort heißt es: "Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde (noch) Glauben vorfinden?" Josef Schmid, Altmeister der katholischen Exegese, schreibt dazu: "Er (V 8b) nimmt mit keinem Wort auf die Geschichte vom Richter und der Witwe Bezug. Im Stimmungsgehalt sticht er stark von der Zuversicht ab, welche V 7-8a atmen, und an die Stelle Gottes tritt hier plötzlich der Menschensohn" (Markuskommentar im "Regensburger Neues Testament", S. 280). Man kann diesen letzten, der Parabel hinzugefügten Satz auf Erfahrungen in den ersten Gemeinden beziehen, in denen es offenbar Christen gab, die nicht mehr so recht daran glaubten, dass Jesus mit seinem Geist helfend gegenwärtig sein wird, wenn seine Jüngerinnen und Jünger in Bedrängnis geraten.
Die hilflose Witwe und der ungerechte Richter.
Der Richter, wie er in der Parabel charakterisiert wird, ist keineswegs eine Ausnahmerescheinung, sondern der Typ eines Richters im alttestamentlichen, im orientalischen Umfeld. Dort galten Richter durchweg als skrupellos und bestechlich. Bei ihnen hatten die Armen, die Witwen und Waisen, die sozial Unterprivilegierten kaum eine Chance. Viele Stellen des Alten Testamentes belegen das. So heißt es beispielsweise beim Propheten Amos: "Bei Gericht hassen sie den, der zur Gerechtigkeit mahnt, und wer Wahres redet, den verabscheuen sie. … Ihr bringt den Unschuldigen in Not, ihr lasst euch bestechen und weist den Armen ab beim Gericht" (Amos 5, 10.12).
Vor einem solchen selbstherrlichen und menschenverachtenden Richter will nun eine hilflose Witwe ihr Recht geltend machen, gegen ihren Feind, wie sie sagt, Recht verschafft zu bekommen. Ihr war in irgendeiner Weise Unrecht angetan worden. Vielleicht handelte es sich um eine Geldsache oder ein ihr vorenthaltenes Erbteil. Der alleinstehenden Frau stand niemand zur Seite. Was sie einzusetzen hatte, um Gerechtigkeit zu erlangen, war ihre Beharrlichkeit, mit der sie immer wieder mit ihrer Bitte zu dem Richter kam und sich dabei sicher war, ihr Ziel zu erreichen. So wurde sie dem Richter langsam lästig. Dieser fürchtete sogar, dass sie ihm auf den Leib rückte und handgreiflich wurde. Obwohl er weder Gott fürchtete noch auf keinen Menschen Rücksicht nahm, gab er schließlich nach. Wie aus seinem Selbstgespräch hervorgeht, tat er dies nicht aus gesundem Rechtsempfinden oder weil ihn etwa sein Verhalten reute. Nein, er handelte aus unlauteren Motiven, aus purem Egoismus.
Beten zum unbestechlichen und gerechten Gott
Nachdem dies alles geschildert ist, gibt es in der Parabel einen neuen Ansatz. Es handelt sich um einen so genannten Analogieschluss, wobei a minore ad maius, vom Geringeren auf das Größere hin geschlossen wird, von der sich im Profanen abspielenden Begebenheit auf das hin, was im Kontext des Glaubens mit dieser Geschichte ausgesagt sein will. Es ist die Übertragung von der Bildhälfte auf die Sachhälfte. "Und der Herr fügte hinzu: Bedenkt, was der ungerechte Richter sagt. Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich Recht verschaffen." Hier erkennen wir den Grundgedanken der Parabel.
In diesem Herrenwort wird dann auch deutlich, dass nicht die unentwegt bittende Witwe die Hauptgestalt der Geschichte ist, sondern der Richter. Die Parabel sagt uns nicht, wie wir uns bei unserem Beten Gott gegenüber verhalten sollen, sondern wendet den Blick auf Gott, der unseren Bitten Gehör schenkt. Wenn schon dieser unmenschliche skrupellose Richter schließlich widerwillig auf die Bitten der Frau eingeht, um wie viel mehr wird dann der gütige menschenfreundliche Gott unsere Bitten erfüllen. Das ist der "springende Punkt", die Quintessenz der Parabel. Der herzlose Richter, alles andere als nachahmenswert, wird dargestellt als Kontrastfigur zu Gott, der ein Herz für die Menschen hat. Während der bestechliche und ungerechte Richter erst nach langem Drängen der Frau Gerechtigkeit gewährt, erweist sich Gott unbestechlich und gerecht. Vor allem denjenigen gegenüber, die kaum Hilfe von Menschen zu erwarten haben.
Eine Frage des Vertrauens
Wie können wir uns in dieser Geschichte wieder finden?
Schon im Alten Testament erscheint Gott als Anwalt der Armen. "Versuche nicht, ihn (Gott) zu bestechen, denn er nimmt nichts an; vertrau nicht auf Opfergaben, die durch Unterdrückung erworben sind. Er ist ja der Gott des Rechts, bei ihm gibt es keine Begünstigung. Er ist nicht parteiisch gegen den Armen, das Flehen des Bedrängten hört er. Er missachtet nicht das Schreien der Waise und der Witwe, die viel zu klagen hat. Rinnt nicht die Träne über die Wange und klagt nicht Seufzen gegen den, der sie verursacht? Die Nöte des Unterdrückten nehmen ein Ende, das Schreien des Elenden verstummt. Das Flehen des Armen dringt durch die Wolken, es ruht nicht, bis es am Ziel ist. Es weicht nicht, bis Gott eingreift und Recht schafft als gerechter Richter. … Köstlich ist das Erbarmen des Herrn in der Zeit der Not, wie die Regenwolke in der Zeit der Dürre" (Jesus Sirach 35, 14-22. 26).
Wenn auch uns, die wir nie in die Lage der armen, hilflosen Witwe kommen, aber in Not und Bedrängnis geraten können, das Wort Jesu gilt, Gott werde uns unverzüglich, ohne zu zögern, zu Hilfe kommen, dann könnten wir uns fragen, warum unser Beten, unser Bittgebet dann noch nötig ist. Gott kennt ja unsere Nöte, und er weiß, was uns Not tut. Er sagt nicht: Betet, sonst kann ich euch nicht helfen. Gott braucht nicht unsere Gebete. Aber wir brauchen sie. Weil in unserem Beten zum Ausdruck kommen soll, dass wir in dem, was uns bedrängt oder niederdrückt, auf Gott angewiesen sind. Not-wendig, im wahrsten Sinne des Wortes, ist das Bittgebet vor allem deswegen, weil sich in ihm unser Vertrauen kundtut in Gott, den Geber alles Guten. In den, der das menschlich gesehen Unmögliche möglich macht. So können wir auf unsere Weise, in unserer Situation, uns in der Parabel von der hilflosen Witwe wieder finden.
Manfred Wussow (2004)
Martin Stewen (2001)
Marita Meister (1998)