1. Lesung vom Fest der Geburt des hl. Johannes des Täufers:
Jes 49,1-6
Lesung aus dem Buch Jesaja:
Hört auf mich, ihr Inseln,
merkt auf, ihr Völker in der Ferne!
Der Herr hat mich schon im Mutterleib berufen;
als ich noch im Schoß meiner Mutter war,
hat er meinen Namen genannt.
Er machte meinen Mund zu einem scharfen Schwert,
er verbarg mich im Schatten seiner Hand.
Er machte mich zum spitzen Pfeil
und steckte mich in seinen Köcher.
Er sagte zu mir:
Du bist mein Knecht, Israel,
an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will.
Ich aber sagte:
Vergeblich habe ich mich bemüht,
habe meine Kraft umsonst und nutzlos vertan.
Aber mein Recht liegt beim Herrn und mein Lohn bei meinem Gott.
Jetzt aber hat der Herr gesprochen,
der mich schon im Mutterleib zu seinem Knecht gemacht hat,
damit ich Jakob zu ihm heimführe und Israel bei ihm versammle.
So wurde ich in den Augen des Herrn geehrt,
und mein Gott war meine Stärke.
Und er sagte:
Es ist zu wenig, daß du mein Knecht bist,
nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten
und die Verschonten Israels heimzuführen.
Ich mache dich zum Licht für die Völker;
damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.
Die heutige Lesung aus dem AT ist als zweites Gottesknechtslied überschrieben. Es ist ein Text aus dem Deuterojesaja, dem Trostbuch aus der Zeit des Babylonischen Exils. Gottes Weg mit seinem Volk ist kein Zufall, sondern bewusstes Tun. Daher ist die "Berufung im Mutterleib" (Jes 49,1 und Jes 49,5) wichtig.
In seinem Auftreten mit dem machtvollen Wort kann Johannes der Täufer diese Beschreibung ausfüllen, auch wenn die messianische Auslegung der Gottesknechtslieder eher auf Jesus angewendet wird.
Die Lesung ist dem Buch Jesaja entnommen. Jesaja lebte im 8. Jahrhundert vor Christus in Jerusalem. Im 6. Kapitel berichtet er über seine Berufung, die im Todesjahr des Königs Usija erfolgte (um 740 v. Chr.). Er wirkte über 40 Jahre lang. Jesaja hatte Gott als den "Heiligen Israels" gesehen (vgl. Jes 6).
Wir finden von Kap. 42 bis 52 vier verschiedene Gottesknechtslieder. Sie könnten ursprünglich einmal selbständig gewesen sein und dann in das jesajanische Gesamtwerk eingefügt worden sein. Wichtig ist für uns die Überlegung, wer mit dem "Knecht des Herrn", dem "æbæd jahwe", gemeint ist. Ist damit eine einzelne Person gemeint, oder steht er als Kollektiv für ganz Israel? Wir dürfen beides vermuten - auf alle Fälle versteht die Redaktion von Trito-Jesaja diese Figur schon als individuell (vgl. Jes 61,1-3). Das Neue Testament identifiziert den Gottesknecht dann schon mit Jesus, dem endgültigen Heilsmittler.
In diesem zweiten Gottesknechtslied spricht der Knecht selbst zu uns. Der Berufene ist vom Mutterleib an ausersehen, Israel zu Gott zurückzuführen. Das war dem Knecht bisher noch nicht gelungen. Es ergeht ihm wie vielen Propheten vor ihm - er sieht seine Sendung gescheitert. Aber genau in dieser Situation weitet Gott seine Zusage ins Unglaubliche hinein aus: Er erneuert seinen Auftrag, die Sendung wird sogar noch erweitert. Der Knecht Gottes soll nun nicht nur zu Israel gehen, sondern sein Auftrag gilt für alle Völker, bis an das Ende der Erde.
Norbert Riebartsch (2012)
Maria Wachtler (2004)