"Er war's...”
Wenn man Kinder fragt, die sich gerade prügeln, warum sie das tun, kann man ja auf die Antwort wetten: "Weil der andere...”
Wenn man sich den gerade mal wieder aktuellen Konflikt zwischen den beiden Koreas anschaut und versucht, die Hintergründe herauszubekommen, ist die Antwort ungefähr nach dem Muster: "Weil der andere...”
Wenn der isrealische Staat ein riesiges Bollwerk baut zur Verteidigung gegen das Volk der Palästinenser und dieses wiederum Raketen auf israelisches Hoheitsgebiet schießt, und man fragt, warum das geschieht, ist die Antwort ziemlich genau so: "Weil die anderen...” Und so weiter.
Weil die einen in irgendeinem Zusammenhang sicher glauben, ihre Ansprüche, ihre Autonomie, ihr Hab und Gut gegen die anderen verteidigen zu müssen, hören, sehen und erleben wir tagtäglich Konflikte unterschiedlichen Ausmaßes - überall in der Welt, aber durchaus auch in direktem Umfeld.
Und schauen wir doch gar nicht so weit in den Umkreis, sondern lieber in den Spiegel: Wann haben wir das letzte Mal Gewaltakte in irgendeiner Form versucht zu rechtfertigen mit dem Satz oder dem Gedanken: "Weil der andere...”?
Das scheint irgendwie schon fast naheliegend zu sein. Das Gute dieser Welt begründen wir durch unser eigenes Können und Bewirken, das Schlechte und Falsche durch das Wirken Anderer - das ist der Mensch, wie er leibt und lebt.
Realitätsfern?
Der Gottessohn kommt nun und macht das ganz anders: Er predigt Nachgeben, Aufgabe jeglicher Rechte und Ansprüche - noch mehr: Feindesliebe.
Eine Botschaft, die selbst in der Nachfolge Jesu - etwa in den Kirchen - so wenig Resonanz findet - man denke an die Gehässigkeiten und an so viel Gezänk, mit dem sich mehr oder weniger Verantwortliche in unseren Kirchen stets reichlich torpedieren. Viel ist von diesem Wort Jesu in unserer Zeit wohl anscheinend nicht geblieben.
Es ist ja nun auch ein schwieriges. Und ein revolutionäres noch dazu. Noch die Welt des Alten Israels hatte ganz andere Vorstellungen - heißt es doch im Buch Exodus: "Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat: Schaden für Schaden, Auge für Auge, Zahn für Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun." (Lev 24,19f). Wer einen Schaden erlitt, hatte das Recht auf Wiedergutmachung. Wer Schaden zufügte, war zur Wiedergutmachung verpflichtet oder musste Strafe empfangen: Das nachvollziebare und ja auch heute noch vollgültige Recht auf Schadlosigkeit steht hier ganz weit oben.
Einfühlung ist gefragt
Ob Jesus mit diesem Gesetz hat brechen wollen, ist dabei nun nicht so sehr die Frage. Jesus ist nicht Jurist und Richter, sondern Künder des Gottessreiches. Ihm geht es nicht um neue Gesetze, sondern um neue Sichtweisen. Und noch vielmehr darum, unumschränkte Selbstbezogenheit aufzugeben zugunsten des freien Blicks auf den Anderen. Wer einfach juristische Schemata anwendet, der droht abzugleiten in ein erstarrtes Rechtssystem, das nur noch kalt in Anwendung gebracht wird. Die Menschen, um die es geht, gehen dabei verloren.
Jesus nimmt sie wieder in Blick und lädt ein, nicht zuerst nach eigenen Bedürfnissen zu fragen, sondern zu schauen, was der Andere braucht, warum er in einer bestimmten Weise denkt und handelt. Kurzum: Jesus setzt als besondere christliche Tugend das Einfühlungsvermögen. Warum? - weil es Gott mit den Menschen genauso macht.
Gar nicht so einfach
Dadurch wird die Lebenspraxis allerdings nicht einfacher. Denn Gesetze und Spielregeln für das Leben der Welt kann man nicht einfach aufheben oder überspringen. Auch Jesus wollte das nicht. Wie zu seiner Zeit werden wir täglich mit Situationen konfrontiert, in denen wir einfühlsam entscheiden müssen zwischen dem Wohl eines Menschen und Regeln und Gesetzen, die angewendet werden sollen, und unseren eigenen Bedürfnissen.
Das beginnt auf höchsten Ebenen: Einerseits weiß ein Staat um Not und Elend von Menschen auf der Flucht, andererseits gibt es Anforderungen und Gesetze. - Wie entscheiden? Das geht hinein in kleinere Zusammenhänge: Zeige ich auf Unrecht, das ich in meinem Betrieb sehe, und verstoße damit vielleicht gegen meine dienstliche Schweigepflicht oder schweige ich geduldig, damit das Betriebsklima nicht noch mehr gestört wird?
Ertrage ich Konflikte in Partnerschaften und Familien still und leise, damit noch ein bisschen Frieden bleibt, oder drücke ich die Stopptaste, beschwöre damit einen Riesenkrach herauf, aber vielleicht auch die Klärung einer verfahrenen Situation?
Mensch werden
Paulus ruft den Menschen zu: "Ihr seid Tempel Gottes und der Geist Gottes wohnt in euch.” Damit hält er seinen Zuhörerinnen und Zuhörern eindringlich vor Augen: Ihr seid auch Zeuginnen und Zeugen für die Liebe und Barmherzigkeit Gottes. Entscheidet und handelt entsprechend.
Das - wie gesagt - ist nicht einfach. Das erfordert, wie Gott einfühlsam zu sein, - genau hinzusehen, was es braucht, dass die Schöpfung gut wird - wie Gott es einst wollte. Wir müssen den Anderen dazu fest in den Blick nehmen und dürfen ihn nicht verlieren. Selbst dann wenn's richtig schwierig wird: Jesus fordert auf, sogar die Feinde zu lieben. Und das braucht dann wirklich Kraft und Willen.
Oft ist es dann vielleicht nötig, das eine oder andere an Schlechtem in dieser Welt zu ertragen; vielleicht aber erfordert es manchmal auch, sich in den Gegen-Wind zu stellen und den Widerstand wagen. Auf keinen Fall aber geht es an, Gesetze und Regeln wie Schablonen über diese Welt und ihre Menschen zu legen - damit wird man der Wirklichkeit nicht gerecht.