Eine heikle Angelegenheit
Das Evangelium heute ist eine Belehrung und in den Ohren vieler wohl keine leichte Kost. Da ist die Rede von Brüdern (und wir dürfen ergänzen: von Schwestern), die gesündigt haben. Es gibt keinen Hinweis darauf, um welche Sünde es sich handelt oder wie schwer sie wiegt. Das macht den Text schwierig: Es wird überhaupt nicht bestimmt, was mit "sündigt dein Bruder" gemeint ist. Es ist einfach der oder die sündigende Mitglaubende im Blick - uneinsichtig und nicht bereit zur Buße.
Das Evangelium belehrt uns nun, wie wir mit diesen Menschen umgehen sollen: Wir sollen den Mitmenschen, der gesündigt hat, zurechtweisen - zuerst im vertraulichen Gespräch unter vier Augen. Wenn wir keinen Erfolg haben, sollen wir einen neuen Versuch der Zurechtweisung unternehmen - diesmal im kleinen Kreis mit ungefähr zwei weiteren Personen. Danach, wenn dieser Versuch auch fruchtlos bleibt, soll die Glaubensgemeinde befasst werden. Und wenn das auch keine Umkehr bringt, ist die schuldig gewordene Person aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.
Das klingt aufs Erste vielleicht wenig nach einer Frohbotschaft, zumindest dann, wenn man den Schwerpunkt auf den Ausschluss legt. Aber der Text wählt einen anderen Schwerpunkt: Im Zentrum stehen die Mitglaubenden, an denen jemand schuldig geworden ist oder vielleicht jene, die eine Sünde - etwas Zerstörerisches, Liebloses, Unheilbringendes - entdecken.
Einmischung in private Angelegenheiten?
Nun ist unsere Situation eine andere als jene der überschaubaren Gemeinden des Evangelisten Matthäus, in denen man freiwillig und bewusst Teil der christlichen Gemeinde war, gemeinschaftlich das Leben aus dem Glauben gestaltet hat und Sünden gerade diese Gemeinschaft zutiefst bedroht haben.
In unserer modernen kirchlichen Situation darf einem hingegen schon der Gedanke kommen: Warum mischt sich da überhaupt jemand in die privaten Angelegenheiten eines oder einer anderen ein? Ist es nicht anmaßend, sich sicher zu sein, dass der oder die andere gesündigt hat und man selbst im Recht ist?
Immerhin kennen die meisten von uns das zur Genüge: Menschen, die an den anderen immer genau sehen, was falsch, sündhaft oder womöglich unkatholisch ist. Menschen, die genau zu wissen glauben, was bei anderen nicht stimmt. Menschen, die ihre Beurteilung von anderen nicht selbstkritisch anschauen, sondern schnell mit Zurechtweisungen da sind. Da würde man sich vielleicht eher einen Evangelientext wünschen, der vor Zurechtweisungen warnt und vielmehr dazu aufruft, die eigene Schuld kritisch anzuschauen.
Aber das ist in den heutigen Schrifttexten nicht der entscheidende Punkt. Heute wird die Zurechtweisung als Handlung aus christlicher Haltung heraus eingefordert - und das mit höchster Autorität in Form einer belehrenden Rede Jesu.
Daher lohnt es sich wirklich, genauer hinzuschauen, was uns da verkündet wird. Und um es vorweg gleich zu sagen: Die Botschaft, die uns da nahe gebracht wird, ist großartig. Sie ist erlösend, sie kann uns wahrhaft befreien. Was ist also das Gute an dieser Botschaft? Ich will drei Gedanken hervorheben:
Sünde betrifft alle
Erstens ist es keine rein private Angelegenheit, wenn jemand sich versündigt bzw. schuldig wird. Das Evangelium greift ein Wissen unserer frühen Tradition auf, nämlich dass die Sünde nicht nur diejenigen betrifft, die schuldig geworden sind, sondern die ganze Glaubensgemeinschaft berührt und hier Schaden anrichtet. Denn es geht um die Beziehung zueinander und zu Gott. Eine Störung dieser Beziehung von Einzelnen, eine Schädigung von Menschen beeinträchtigt auch die Gemeinschaft, die sich aus dem Glauben an den guten Gott versteht.
Ursprünglich wird es noch stark um die Einheit der Gemeinschaft im Glauben gegangen sein, damit die junge Kirche nicht auseinander bricht. Aber gilt es nicht auch heute?
Wenn beispielsweise jemand andere ungerecht behandelt;
wenn jemand Erfolg als wichtigste Sache sieht und Menschen, die scheitern, abwertet;
wenn jemand die eigene Macht missbraucht und Gewalt ausübt;
wenn jemand auf die Kleinen und Benachteiligten herunterschaut und boshaft lästert anstatt in ihnen den Aufruf Gottes an uns zu suchen;
wenn jemand Menschen oder die Umwelt skrupellos ausbeutet;
wenn jemand das Familienleben oder die Ehe zerstört usw.
Wo ein Teil unserer kirchlichen Gemeinschaft oder unserer Pfarre sündigt, betrifft das auch irgendwie unser Miteinander. Und es betrifft uns, weil wir uns häufig von Schuld nicht selbst befreien können.
Das Wagnis eines Gesprächs
Zweitens wirbt das Evangelium daher um einen rechten Umgang miteinander, um die uneingeschränkte wahre Geschwisterlichkeit. Der Schwerpunkt des heutigen Evangeliums liegt gerade nicht auf dem Ausschluss von Menschen. Das Ziel der Stufen des Gesprächs ist es, den "Bruder" bzw. die "Schwester" zu gewinnen. Nun sind solche Gespräche sicherlich nicht der einfachste Weg. Einfacher ist es, (wie es ja auch oft geschieht), die Betroffenen zu meiden oder nicht mit ihnen sondern mit anderen über ihr falsches Tun zu reden.
Das hilft niemandem. Aber noch etwas Wichtiges kommt hinzu: Das unmittelbare Gespräch zu suchen, bedeutet, dass wir die anderen wertschätzen. Es zeigt so etwas wie Solidarität mit den "Sündern und Sünderinnen". Denn - so ehrlich müssen wir schon sein: Niemand von uns kommt ohne Schuld und ohne Sünde durchs Leben. Wo wir uns als Glaubende noch irgendwie zusammengehörig wissen, liegt das Geben und das Annehmen von gegenseitiger Unterstützung auf der Hand. Dazu gehört mitunter auch, Mitmenschen in ihren schädlichen Einstellungen und Handlungen nicht alleinzulassen und das Wagnis eines Gesprächs einzugehen.
Es bedeutet, die Anderen auch in ihrer Schuld und Sünde als "Brüder" und "Schwestern" zu achten und sich um sie zu sorgen - also füreinander Verantwortung zu tragen. Mit jemandem, der schuldig geworden ist oder der einem Unrecht getan hat, das Gespräch zu suchen und nicht vorschnell aufzugeben, das sind wir einander schuldig. Es ist, recht verstanden und recht durchgeführt, nicht Einmischung von Besserwissern. Es kommt aus der Verantwortung, die wir füreinander haben.
Schuldig zu werden - das ist ja nicht nur die ganz persönliche Angelegenheiten der Personen, die falsch gehandelt haben. Das ist auch die Angelegenheit von uns, die wir füreinander da sein und miteinander das Leben meistern können. Das meinen wir auch, wenn wir etwas unüblich in der Kirche voneinander als Brüder und Schwestern reden.
Dieses Gespräch, das seinen Ausgang gerade nicht in der Öffentlichkeit, sondern im geschützten Privatraum nimmt, schützt und schont den Anderen. Unbedingt und mit großer Sorgfalt ist auf Takt und Diskretion zu achten und sind die eigenen Grenzen zu akzeptieren: Gespräche können scheitern. Umgekehrt: Wo Gespräche gelingen und Umkehr sich ereignet, ist das ein Geschenk. Dieses Vorgehen fordert damit die Solidarität in der Gemeinde auch mit jenen, die Schaden anrichten, andere verletzten, Ungerechtigkeit vertreten.
Aneinander Seelsorger sein
Drittens traut auch uns diese Jesus-Rede zu, dass wir als Glaubende so handeln können. Das heutige Evangelium ist damit im Grunde eine Erinnerung daran, dass wir als Getaufte gewissermaßen füreinander Seelsorge tun können. Das ist eine erlösende Botschaft. "Was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein." So haben wir gehört. Das ist allen Jüngern zugesagt. Und das heißt, dass das ein Zuspruch an uns alle ist: Wir können einander hilfreich sein, wo jemand falsch gehandelt oder falsche Lebenswege eingeschlagen hat. Wir tragen Verantwortung - und das im positiven Sinn: Das Evangelium spricht uns zu, dass der Glaube uns befähigt, diesen durchaus riskanten Versuch zu wagen, einander aus der Schuld zu helfen.
Befreiender Umgang mit Schuld
Das Evangelium ist alles andere als ein Freibrief, willkürlich mit der Schuld anderer umzugehen oder andere auszuschließen. Denn es ist eine tiefe Verantwortung für die Mitmenschen und für die Glaubensgeschwister. So kann man schuldig werden, wenn man leichtfertig und vielleicht allzu bequem meint, dass das Schuldig-Sein der anderen einen selbst bzw. die Glaubensgemeinde nichts angehe.
Auf den Punkt gebracht: Kirche erfahren wir dort besonders deutlich, wo in der Gewissheit der Gegenwart Gottes der Schuld befreiend begegnet werden kann und Sünde das Leben nicht mehr weiter vergiftet. Versöhnung mit eigenem Scheitern und falschen Entscheidungen, Versöhnung mit den Geschädigten und Verletzten, Versöhnung mit der Gemeinschaft - da ist Kirche wirklich zu etwas gut. Das ist eine unermessliche Verheißung.
© Mag.a Dr.in Edeltraud Koller, Linz
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