Lesung aus dem zweiten Buch der Könige.
Eines Tages ging Elíscha nach Schunem.
Dort lebte eine vornehme Frau,
die ihn dringend bat, bei ihr zu essen.
Seither kehrte er zum Essen bei ihr ein, sooft er vorbeikam.
Sie aber sagte zu ihrem Mann:
Ich weiß, dass dieser Mann,
der ständig bei uns vorbeikommt,
ein heiliger Gottesmann ist.
Wir wollen ein kleines, gemauertes Obergemach herrichten
und dort ein Bett, einen Tisch,
einen Stuhl und einen Leuchter für ihn bereitstellen.
Wenn er dann zu uns kommt,
kann er sich dorthin zurückziehen.
Als Elíscha eines Tages wieder hinkam,
ging er in das Obergemach, um dort zu schlafen.
Und als er seinen Diener Géhasi fragte,
was man für die Frau tun könne,
sagte Géhasi: Nun, sie hat keinen Sohn
und ihr Mann ist alt.
Da befahl er: Ruf sie herein!
Er rief sie
und sie blieb in der Tür stehen.
Darauf versicherte ihr Elíscha:
Im nächsten Jahr um diese Zeit
wirst du einen Sohn liebkosen.
Das zweite Buch der Könige ist der vierte Band eines umfassenden israelitischen Geschichtswerks (1 Sam - 2 Kön). Geschrieben wurde es, so nimmt man an, an einem Tiefpunkt der israelitischen Geschichte: Im Jahre 586 v. Chr. wurde das Südreich Juda von den Babyloniern erobert, der Tempel zerstört, die Stadtmauern geschliffen und die Oberschicht samt "allem, was lesen und schreiben konnte" nach Babylon deportiert. Das selbständige Königreich existierte nicht mehr und es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, daß das Volk Israel, wie so viele der kleinen Reiche vor ihm, im babylonischen Völkergemisch untergehen würde. Wie hatte es mit dem von Jahwe persönlich auserwählten und "angetrauten" Volk so weit kommen können? Zeit für ein paar eindringliche Fragen. Höchste Zeit für ein paar Gelehrte, sich ihre bisherige Geschichte anzuschauen und Bilanz zu ziehen. Ihre Antwort auf die Katastrophe des Exils ist ein vierbändiges Geschichtswerk, in welchem sie viel älteres Material aus ihrer Sichtweise überarbeiten und ergänzen.
Ihre Grundthese ist, vereinfacht gesagt: Israels Scheitern, aber damit auch seine Chance auf Neubeginn, kann man auf einen knappen Nenner bringen - das Gebot "Jahwe allein!". Gegen dieses Gebot haben die Könige Israels immer wieder verstoßen, indem sie Fremdgöttern huldigten. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Geschichtswerk: Mit der Untreue gegen Jahwe hat Israel sich selbst um die Freiheit gebracht, die ihm einst - wider alle menschliche Erwartung - durch die Errettung am Schilfmeer geschenkt wurde. Es hat das gelobte Land leichtsinnig wieder verspielt, indem es seinen Ursprung vergaß: Jahwe allein! Und das, obwohl es in seiner Geschichte einzelne Menschen gab, die den vergessenen Gott einmahnten - z.B. den Propheten Elischa.
Die Lesungsperikope ist dem Erzählkranz um den Jahwe-Mahner Elischa entnommen. Er ist Schüler des berühmten Propheten Elija, der (soweit heute feststellbar) ungefähr 850 v. Chr. lebte. Wie sein großer Vorgänger hat Elischa im Volk und vor allem bei der Oberschicht des Reiches, die häufig Baal-Verehrer sind, einen schweren Stand: Die Bandbreite reicht von Verspottung bis zur offenen Verfolgung. Wer ihn aufnimmt, wie jene vornehme, leider namenlos gebliebene Frau, ergreift Partei für ihn und riskiert dasselbe Schicksal. Sie tut das nicht aus reinem Mitgefühl: Sie begreift ihn als einen Gesandten Jahwes. Und damit nimmt sie nicht allein den Mann Elischa auf, sondern auch den Gott, den er mitbringt. Anstatt sich und ihrem Mann aber durch diese couragierte Tat das Leben zu verpfuschen, wird ihr ein männlicher Nachkomme geschenkt - die sichtbarste Segnung für eine Frau im Alten Orient. Das geschieht nicht durch den "modernen" Fruchtbarkeitsgott Baal, sondern durch die Zuwendung des verachteten "altmodischen" Gottes Jahwe, der dieser mutigen Frau ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt. Ein Gott gegen die Hoffnungslosigkeit - wie damals am Schilfmeer.
Das zweite Buch der Könige erzählt die Geschichte der getrennten Reiche Israel und Juda bis zu deren jeweiligen Untergang. Neben der stereotypen Darstellung der einzelnen Könige sowohl des Nordreiches, als auch des Südreiches ist die Darstellung der Propheten und ihrer Auftritte für beide Bücher der Könige charakteristisch.
Nach der Entrückung des Propheten Elija wird Elischa der von Gott auserwählte Prophet im Nordreich Israel. Wie Elija ist auch er ein Mahner gegen den Abfall von Jahwe, verfügt über Wunderkräfte und ist der vollmächtige Verkünder des Wortes Gottes. Was er verheißt oder androht geht in Erfüllung. Die Wundergeschichten, die von Elischa erzählt werden, haben eine große Ähnlichkeit mit den Erzählungen über Elija.
Die Erzählung der heutigen Lesung betrifft zwar nicht die großen geschichtlichen Ereignisse und das Weltgeschehen, das in den Königsbüchern sehr oft im Zentrum steht, zeigt aber an einer einzelnen unbedeutenden Familie die Vollmacht Gottes mit der der Prophet Elischa handelt.
Der geschenkte Sohn
Eine gutsituierte aber kinderlose Frau aus Schunem nimmt sich des Propheten an, sie stellt ihm einen Raum in ihrem Haus zur Verfügung, wo Elischa sich aufhalten kann.
In den Versen 11-13 wird erzählt, daß Elischa herausfinden möchte, wie er sich für ihre Gastfreundschaft erkenntlich zeigen kann. Die Frau selbst hat sich mit ihrer Situation abgefunden und äußert keine Wünsche, erst Elischas Diener macht ihn aufmerksam, daß die Ehe der Frau kinderlos geblieben ist. Als ihr Elischa zusagt, daß sie einen Sohn bekommen wird, rechnet sie sofort mit einer Enttäuschung.
Die Schunemiterin schenkt wirklich einem Sohn das Leben, aber die negative Erwartungshaltung scheint sie trotzdem nicht überwunden zu haben, zumindest wird ihr Vertrauen nachträglich auf die Probe gestellt. 2 Kön 4,18-37 wird erzählt, daß der von Gott geschenkte Sohn stirbt. Diesmal resigniert die Frau aber nicht, sondern mobilisiert alle Kräfte, um den Propheten zu holen, von dem sie glaubt, daß er ihr helfen kann. Ihr Einsatz bleibt nicht ohne Erfolg: Elischa schenkt ihr ihren Sohn zum zweitenmal.
Der Prophet Elischa war viel unterwegs. Deshalb läßt es sich auch schwer sagen, wo er seinen ständigen Wohnsitz hat. Jeder Gottesmann galt als eine Person, der man nicht zu nahe treten durfte. Die Schunamitin freilich - ihr Name wird nicht genannt - ließ ihm "ein kleines Obergemach" einrichten. Sie rechnete mit einem ständigen Besuch des Propheten.
Für eine hebräische Frau gab es keinen größeren Kummer als Kinderlosigkeit. Gehasi mach den Propheten darauf aufmerksam. Der Dank des Propheten für die Großzügigkeit der Wohnungsbereitstellung ist eine Zusage Gottes an sie: "Übers Jahr um diese Zeit wirst du einen Sohn liebkosen." Eine Anlehnung an die Erzählung von Abraham und Sara.
Antonia Keßelring (2002)
Regina Wagner (1999)
Feri Schermann (1996)