Wenn wir von unserer Situation heute aus zurück auf Maria, Josef und Jesus blicken, dann stellt sich unweigerlich die Frage: Können wir denn von der heiligen Familie realistischerweise etwas lernen? Wir wissen doch im Grunde nichts von ihr, da sich die Evangelien über die für die Familie interessantesten Jahre ausschweigen.
Und wie oft wurde das Bild der heiligen Familie als einer heilen Familie im bürgerlichen Sinn in der Vergangenheit beschworen: so als ob das Glück und die Harmonie daran gehangen hätten, dass Jesus Josef an der Hobelbank zur Hand ging oder brav für die Mutter am Brunnen Wasser holte. Das Bild, das die Evangelien im weiteren Verlauf der Geschichte Jesu zeichnen, ist jedoch ein anderes: ein Bild, das voller Spannung ist, eher typisch für eine normale Beziehung zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern, nicht besonders heilig.
Aber täuschen wir uns nicht: Bei den spärlichen Schilderungen über das Leben der heiligen Familie geht es weder darum, sie als eine völlig normale Familie darzustellen noch unsere Familien heute irgendwie religiös absegnen zu lassen ...
Was die heilige Familie ausgezeichnet hat, war nicht eine bürgerliche Anständigkeit, wie das die Moralprediger von früher gerne gehabt hätten, und es war auch nicht eine Harmonie des »Seid nett zueinander«, wie es heute vielleicht missverstanden wird. Beides wäre zu wenig.
Zwei Dinge zeichnen die heilige Familie aus: zum einen die Achtung vor dem Geheimnis Gottes, zum anderen ihr Mittelpunkt: Jesus selbst. Jede der drei Personen Maria, Josef und Jesus hatte Achtung vor der Einmaligkeit der anderen und vor dem unverwechselbaren Auftrag, den Gott jeder von ihnen zugedacht hatte.
Josef respektiert den Willen Gottes mit Maria, Maria respektiert die Herkunft Josefs aus dem Davidshaus, die dazu führt, dass sie sich wegen der Volkszählung hochschwanger auf den Weg nach Betlehem, die Davidsstadt, machen müssen. Beide respektieren den Ruf Gottes an ihr Kind, und das Kind respektiert die Rolle der Eltern ...
Immer geht es um das Geheimnis Gottes mit jeder einzelnen Person und um den geheimnisvollen Plan, den Gott mit ihr zusammen vorhat. Und es ist offensichtlich nicht sündhaft, Fragen zu stellen, sich schwerzutun mit diesem Plan und um ihn zu ringen: Das haben Josef, Maria und Jesus, jeder auf seine Weise, getan.
Ob eine solche Perspektive nicht auch unser Zusammenleben bereichern und erleichtern würde und ihm zugleich eine andere Tiefe gäbe? Uns gegenseitig zuzugestehen, dass Gott mit jedem Einzelnen von uns sein Geheimnis hat und dass unser Lebensglück in nichts anderem besteht, als diesem persönlichen Geheimnis auf die Spur zu kommen und zugleich das Geheimnis im Leben des Anderen zu respektieren.
Am schwierigsten ist das sicher im Zusammenleben mit denen, die einem am nächsten stehen und die man am besten kennt: dort zu akzeptieren, dass ich nicht einfach über den anderen verfugen kann, sosehr ich ihn kenne und liebe; anzuerkennen, dass der andere nicht einfach zu meiner Verfügung steht, sondern meinem Zugriff entzogen bleibt, weil er Geschöpf Gottes ist. Wir gehören letztlich nicht einander, sondern Gott. Wenn wir uns aber von dieser Überzeugung getragen freigeben und freilassen, dann - da bin ich sicher und das zeigt die christliche Erfahrung - finden wir uns auf einer viel tieferen Ebene wieder und sind dort miteinander verbunden. Das war das geheime Elixier der heiligen Familie: nicht bürgerlich-katholische Anständigkeit und nicht der Stil der modernen happy family, sondern der Respekt vor dem göttlichen Geheimnis des anderen.
Das Geheimnis Jesu kommt in dem Namen zum Ausdruck, den ihm Maria und Josef geben. Er ist nicht aus einer Vorliebe oder Laune der Eltern heraus gewählt, sondern in Gehorsam zur Botschaft des Engels: »Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben« (Lukas 2,31).
Jesus - der Name bedeutet übersetzt: »Gott rettet«, und das ist das Zweite, das wir von der heiligen Familie für heute lernen können: Jesus in die Mitte zu nehmen. Das gilt für alle Familien über die Grenze aller Zeiten hinweg. Das klingt vielleicht überraschend: Macht nicht gerade Jesus das Unverwechselbare der heiligen Familie aus?
Wer so denkt, übersieht, dass gerade Jesus nie nur dieser Familie gehörte. Das ist ja das Besondere, dass er nicht einfach Sohn Marias und Josefs war. Das offenbart sich schon bei der Empfängnis. Es wird deutlicher an der Krippe, wo Hirten und Könige kommen. Beim Zwölfjährigen wird es schmerzlich klar und schließlich, als Jesus sagt: »Jeder, der den Willen Gottes erfüllt, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter« (Markus 3,35).
Jesus Platz geben in unseren Familien - was heißt das konkret? Es heißt: seine Botschaft einlassen in unsere Beziehungen, uns sein Wort sagen lassen, nicht nur an Weihnachten. Ihm mehr und mehr Bereiche unseres Lebens öffnen, nicht nur, wenn wir mit menschlichen Kräften und Kenntnissen nicht mehr weiterwissen und Hilfe »von oben« brauchen, sondern auch in den alltäglichen Situationen der Freude, der Langeweile, des Streits. Jesus erlauben, dabei zu sein, das heißt: versuchen, Situationen bewusst aus seiner Perspektive anzuschauen, indem ich ihn frage: »Jesus, wie würdest du das erleben, was würdest du dazu sagen?« Nein, richtiger noch: »Jesus, wie erlebst du das, was sagst du dazu?« Denn er ist ja nicht Vergangenheit, er ist nicht Fiktion, er ist Gegenwart. Er erlebt ja meine Freude, meinen Arger, meine Wut, meine Enttäuschung, meine Ratlosigkeit.
Wie oft sind wir deshalb so schnell am Ende mit unseren Ideen und mit unseren Mitmenschen, weil wir eingeschlossen bleiben in unserer Perspektive, weil wir sie nicht aufmachen, weil wir gar nicht auf die Idee kommen, sie auf Jesus und damit auf Gott hin zu öffnen. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir allein bleiben wollen mit unseren Gedanken, unserem Arger, weil wir im Recht bleiben wollen mit unserer Ansicht, weil wir den Eindruck haben: Ich habe einen Anspruch auf meinen Ärger und meine Enttäuschung. Ich will sie mir gar nicht nehmen lassen, auch nicht von Jesus.
Ich vermute, dass viele Beziehungen - leider auch unter Christen - aufgrund dieser Haltung so schnell am Ende sind. Wie mit den Menschen, so gehen wir oft auch mit Gott um: Wir wollen bestimmen, wann er sich einschalten darf, wann er uns bitteschön beispringen und wann er sich tunlichst nicht einmischen soll, damit er nicht die Bilder stört, die wir uns längst bereitgelegt haben, weil wir ja die Lösung längst zu wissen meinen ...
Warum nicht Jesus um die Lösung in einem Konflikt bitten und mit den Konfliktpartnern etwa in der Familie vereinbaren, gemeinsam in diesem Anliegen zu beten? Warum Jesus nicht nur für die bitten, die ich liebe, um die ich mich sorge, sondern auch für die, die mich stören, ratlos machen, verletzen?
Mit Jesus in der Mitte sind wir allemal dichter am Geheimnis, das Gott in jeden Menschen hineingelegt hat. »Du wärst mit mir bald am Ende, wenn ich nicht eins wäre mit dem, der ohne Grenzen ist«, sagt in einem berühmten Drama des französischen Dichters Paul Claudel die Geliebte (Dona Proeza) zu ihrem Liebhaber. Das ist es: Menschen sind schnell, sehr schnell miteinander am Ende, wenn sie nicht glauben können, dass im Anderen das göttliche Geheimnis lebt, das zu respektieren ist. Wo es respektiert wird, wird das Leben zu einer nie endenden Entdeckungsfahrt, in der wir immer wieder auf das große Geheimnis Gottes mit uns Menschen stoßen, der uns zu der einen, zu seiner Familie umgestalten will.
Stephan Ackermann in: Eine Nacht voller Wunder. Herder Verlag, Freiburg Basel Wien 2013.