Leidensgeschichten
Die Leidensgeschichte Jesu ist lang.
Wir haben sie heute wieder gehört.
Viele Menschen kommen in ihr vor.
Als Täter, als Opfer.
Die Schatten sind lang.
Selbst heilige Institutionen verlieren ihre Unschuld.
Lang sind auch die vielen Leidensgeschichten,
die Menschen erzählen. Heute erzählen.
Von Schmerzen, Ängsten, Verlorenheit,
von Unrecht und geraubtem Leben,
von Mutlosigkeit und Resignation.
Jürgen Henkys hat ein niederländisches Lied ins Deutsche übersetzt.
Dieses Lied hilft, angesichts des Leidens nicht zu verstummen –
und über Hoffnungen zu reden.
Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht,
ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht.
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Mit dem Holz ist das Kreuz gemeint. Jesus trägt es.
Schwer liegt es über seiner Schulter,
drückt ihn auf die Erde,
macht jeden Schritt zur Qual.
Aber das Kreuz wird zu einem Lebensbaum,
zu dem Lebensbaum, den wir im Paradies kannten.
Das war ganz am Anfang.
Am Anfang gab es keine Schuld, keine Angst, keinen Tod.
Jetzt rufen wir den Herrn an:
Wollen wir Gott bitten, dass auf unsrer Fahrt,
Friede unsre Herzen und die Welt bewahrt.
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Die Sehnsucht, Frieden zu finden, ist groß.
An vielen Stellen dieser Welt ist der Frieden weit weg.
Menschen fliehen.
Sie fliehen in Niemandsländer, über Meere –
Und kommen doch nicht an.
Sie stoßen auf Bedenken, Ängste und Ordnungen.
Sie stoßen auf die Friedlosigkeit in vielen Herzen.
Frieden heißt: dass alles heil wird, ganz, rein.
Jetzt rufen wir den Herrn an.
Jesus erlitt Unrecht.
Er verliert in allen Instanzen.
Am Ende wird nicht nur ein Todesurteil gesprochen,
es gibt die schrecklichen Schreie:
Kreuzige ihn! Hinweg mit ihm!
Viele Menschen werden von Menschen ausgeschlossen,
fallen gelassen, ihrem Schicksal überlassen.
Die Erde hat schon viel Blut trinken müssen.
Die Erde ist zerrissen.
Jetzt klagt sie – jetzt klagt sie an.
Denn die Erde klagt uns an bei Tag und Nacht.
Doch der Himmel sagt uns: Alles ist vollbracht!
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Was ist vollbracht?
Was ist zu vollbringen?
Was kann der Himmel geben, was der Erde fehlt?
Was kann der Himmel geben, was den Menschen wehrt?
Es ist die Liebe, die es mit dem Tod aufnimmt,
die dem Tod das Leben entwindet.
Wollen wir Gott loben, leben aus dem Licht.
Streng ist seine Güte, gnädig sein Gericht.
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Mit beiden Beinen stehen wir auf der Erde.
Wir nennen sie Mutter. Wir lieben sie.
Aber sie gehört uns nicht. Sie entzieht sich uns.
Sie wehrt sich gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Verschwendung,
sie verzeiht nichts.
Die Erde spricht uns – schuldig.
In Katastrophen hören wir ihr Urteil.
Wir ducken uns – wir müssten uns erheben!
Denn die Erde jagt uns auf den Abgrund zu.
Doch der Himmel fragt uns: Warum zweifelst du?
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Ich kenne Zweifel. Ich fürchte Zweifel.
Dass mit Gewaltlosigkeit der Gewalt beizukommen ist,
mit Liebe dem Hass,
mit Vertrauen dem Misstrauen.
Ich habe Angst.
Dass die Welt noch zu retten ist.
Das Lied verfolgt von Strophe zu Strophe den Weg Jesu,
zeichnet aber die Wege nach,
die Menschen
wieder
immer noch
auch morgen
gehen.
Wir durchschreiten Dunkelheit,
werden an Schuld erinnert,
wir sehnen uns nach Frieden und
erzählen von Hoffnungen.
Hart auf deiner Schulter lag das Kreuz, o Herr,
ward zum Baum des Lebens, ist von Früchten schwer.
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Das Lied endet versöhnlich,
es ist aus dem Schatten herausgetreten.
Der Baum des Lebens trägt reiche Frucht.
Die Äste biegen sich.
Diese Ernte ist dem Tod abgenommen,
sie wird ihm nicht überlassen,
sie wird ihm auch nicht nachgeworfen.
Wir sehen ein Wunder, - das Wunder der Liebe.
Mit meinem kleinen Glauben,
meiner angefochtenen Hoffnung,
meiner zerbrechlichen Liebe
hänge ich auch an diesem Ast.
Der Lebensbaum – das Kreuz – muss nicht in den Himmel wachsen.
Aber die Wurzeln – sie halten die Erde fest.
Die Hoffnungsgeschichte Jesu wird lang.
Wir haben noch nicht alles gehört.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.