Mit einem Schluck Wasser fängt die Geschichte an. Mit der Fülle des Lebens hört sie auf. Dazwischen: Eine Begegnung - eine Liebesgeschichte!
Aber machen wir langsam. Sogar der Evangelist hat sich viel Zeit genommen, diese Geschichte zu erzählen. Sorgsam, geradezu liebevoll lauscht er dem Gespräch zwischen Jesus und der Frau aus Samarien. Kein Wort soll verloren gehen. Die Animositäten, die es seit Menschengedenken zwischen Juden und Samaritern gibt, der Streit, der nicht entscheiden kann, wer denn die Wahrheit hat, die immer neu gepflegte Geschlechtertrennung und Unterordnung der Frau - alles wie weggespült. Voller Staunen entdeckt der Evangelist, wie in der Begegnung mit Jesus ein Glauben wächst, der Menschen beglückt. Ihnen sogar das Bekenntnis entlockt: "Retter der Welt". Laut ausgesprochen an einem Ort, der ebenso abgelegen wie abgeschrieben ist.
Köstliches Nass
Ich versuche, der Szene in meinem Kopf Worte und Farben zu geben. Ich sehe den Brunnen vor mir! Wasser ist so kostbar, so köstlich! Nach einem langen Tag, einem staubigen Weg, einer hitzigen Auseinandersetzung, einer schlaflosen Nacht. Wasser ist Lebensquell und Jungbrunnen, zweite Haut und offener Himmel.
Seht, was vertrocknet ist und nach nichts mehr aussieht, blüht wieder auf und streckt sich der Sonne entgegen.
Spürt, die Zunge, die am Gaumen klebt, löst sich. Findet auch wieder Gefallen daran, Worte zu formen. Ein Lied zu singen.
Hört, es ist, als ob das Herz Flügel bekommt.
Nein, diese Szene kann nicht nur in meinem Kopf Worte und Farben bekommen, die Geschichte, die Johannes erzählt, taucht meine Seele in ein köstliches Nass.
Ihr habt es längst gemerkt! Es geht nicht um einem Becher Wasser für einen fremden Wandersmann. Ok, der ist schnell gereicht, auch schnell getrunken. Aber wenn dann am Brunnen das Geheimnis des Lebens selbst zur Sprache kommt, wird aus einer anderen Quelle geschöpft. Jesus stellt sich der fremden Frau selbst als Lebensquell vor. Was er sagt, erschließt das Leben, füllt es, verschenkt es.
Klares Leben
Ich sehe die Frau vor mir. Wie jeder Mensch hat sie ihre Lebensgeschichte hinter ihrem Gesicht verschlossen. Wer sie kennt, weiß etwas über sie zu sagen, das Schlechte eher als das Gute. Ein unbeschriebenes Blatt ist sie nicht. Der Evangelist deutet ihre Männergeschichten nur an… Erzählt dann aber, dass Jesus sie bittet, ihm Wasser zu geben. Aus ihrer Hand nimmt er den Becher.
Eine wunderschöne kleine Szene: Während sie sich ziert, von einem Juden angesprochen zu werden, lässt Jesus sich auf sie ein. Er weiß alles über sie, liest in ihrem Leben wie in einem aufgeschlagenen Buch, streicht aber nicht eine Zeile durch. Er schenkt ihr Vergebung, Nähe und Vertrauen. Ob sie ihn gesucht hat? Er hat sie gefunden!
Für Voyeure ist diese Geschichte nicht geeignet. In der Tiefe des Brunnens verschwindet,
warum sie Männergeschichten hatte,
welche Enttäuschungen sie erlebte,
welche Enttäuschungen sie bereitete.
Fröhlich und gelassen macht Jesu Wort, einen Blick in den Brunnen zu werfen - und den Blick in das eigene Leben zu wagen. Denn wer jetzt in den Brunnen schaut, wird auf dem ruhigen Spiegel des Wassers nur sein eigenes Gesicht sehen.
Sprudelnde Quelle
In vielen Geschichten, Märchen und Gedichten spielt der Brunnen die Hauptrolle. Nicht einmal zufällig. Einmal fasziniert seine Tiefe, die Unzugänglichkeit, die Kühle, die aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Dann aber wird er zu einer Quelle, aus der das Leben kommt. Schier unermesslich und unerschöpflich.
Fällt’ s auf? So nicht erwartet, geradezu überraschend wird die Frau zu einem Brunnen. Es sprudelt nur so aus ihr heraus. Das Vertrauen, das sie geschenkt bekam, die Vergebung, die ihr zuteil wurde - das sind keine Rinnsale, kein trübes Wasser: das ist lebendiges Wasser. Schütten wir doch das abgestandene Wasser weg - teilen wir das lebendige, frische Wasser. Davon hat Jesus die ganze Zeit geredet. Dem Evangelisten blieb nichts anders übrig, als viele Verse zu machen. Die Geschichte, die er erzählt, ist maßlos. Eben wie ein Brunnen. Eine Quelle, die nicht versiegt. Und ein Ort, an dem Menschen ihre Geschichten loswerden. An dem Hoffnungen geteilt werden. An dem Liebe wächst.
Das letzte Wort gibt der Evangelist den Leuten:
Und zu der Frau sagten sie: Nicht mehr aufgrund deiner Aussage glauben wir, sondern weil wir ihn selbst gehört haben und nun wissen: Er ist wirklich der Retter der Welt
Mit einem Schluck Wasser fängt die Geschichte an. Mit der Fülle des Lebens hört sie auf. Dazwischen ist noch Platz: Für eine Begegnung - für eine Liebesgeschichte!