"einander lieben", "einander dienen", "miteinander eins sein"
Der Evangelist Johannes, aus dessen Überlieferung wir im heutigen Evangelium einen Ausschnitt gehört haben, gliedert seinen biblischen Bericht über Jesus in drei Abschnitte:
Im ersten, dem längsten Teil berichtet er über die Wunder und Gleichnisse Jesu.
Der dritte Abschnitt enthält das Leiden, Sterben und die Auferstehung des Herrn.
Im mittleren Teil, also zwischen das Wirken Jesu und sein Leiden und die Auferstehung, fügt Johannes einen Abschnitt ein, den wir so bei den anderen Evangelisten nicht finden. In der Form von Abschiedsreden und Gebeten, fasst Jesus noch einmal seine wichtigsten Gedanken zusammen und legt das Geschick der Jünger und Gläubigen, die sein Werk weiterführen sollen, in die Hände des Vaters.
Unser heutiges Evangelium entstammt diesem mittleren Teil und hat äußerlich die Form des Gebetes "Ich bitte dich, Vater, für alle, die an mich glauben"; gleichzeitig aber auch eine Botschaft an die Jünger "Sie sollen eins sein, wie du, Vater, und ich, dein Sohn, eins sind". Neben den oft wiederholten Aufrufen Jesu, einander zu lieben und zu dienen, war Jesus das Eins-Sein mit ihm und untereinander ein wichtiges Anliegen. Im Grunde gehören "einander lieben", "einander dienen", "miteinander eins sein" zusammen. Das eine geht nicht ohne das andere. So sehr wir dies wahrscheinlich vom Verstand her wissen, so sehr müssen wir es uns im Alltag immer wieder neu vor Augen halten, um das Eins-Sein in der Praxis zu verwirklichen. Schauen wir, was dies für uns bedeutet.
Eins mit Gott
Eins sollen wir sein mit Gott. Ich bin sicher, niemandem von uns hier ist Gott gleichgültig. Wir wünschen uns nicht nur seinen Beistand und seine Gnade. Nein, wir wollen auch im Strom und Fahrwasser Gottes und seines Sohnes leben.
Aber dann kommt der Alltag mit seinen Mühen, Aufgaben und Herausforderungen. Wir müssen uns konzentrieren und niemand kann dabei unentwegt an Gott denken. Umso wichtiger ist es, immer wieder einmal Besinnungspausen einzulegen mit der Frage: Ist das, was ich tue und wie ich es tue, im Sinne Gottes? Hat Gott noch Freude an mir, wenn er mich betrachtet? Mit diesen Fragen können wir uns immer wieder auf Gott einpendeln und mit ihm in Einklang bringen.
Nun wird unser Alltag jedoch nicht immer von uns allein und von uns selbst bestimmt. Es kommen hartnäckig Forderungen oder Erwartungen auf uns zu, die wir bei genauerem Hinsehen nicht mit dem Willen Gottes vereinbaren können.
Das Mogeln am Arbeitsplatz, das Aufschwatzen von dem, was es zu verkaufen gilt, das Abwimmeln von Verpflichtungen und Leistungen, auf die der andere eigentlich ein Recht hätte, wird nicht selten von uns erwartet oder gar abverlangt, ohne uns zu fragen, ob wir dies im Gewissen mittragen wollen. Das Schweigen zu Machenschaften, das Mitbeteiligt-werden an krummen Geschäften, ein erwartetes Ja zu dem, was wir im Grunde ablehnen, Entlassung, wenn wir nicht mitziehen, Ausgrenzung oder Mobbing bei Aufbegehren - das alles führt einen gutwilligen und aufrichtigen Christen oft in eine schwierige Situation. Jesus, so könnte man fast vermuten, wird dies alles vielleicht vor Augen gehabt haben, wenn er den Vater innig bittet, dass die Jünger doch mit ihm, dem Vater, eins sein mögen, wie er, Jesus, mit dem Vater eins ist.
Sich mit Gott in Einklang bringen, so müssen wir zuweilen bitter erfahren, kann Nachteile vieler Art mit sich bringen oder nach sich ziehen. Das schmerzt und kann sehr wehtun. Letztlich bleibt auch uns oft kein anderer Weg als der, den Jesus ging - der Weg des Leids. Jesus hat seine Jünger darüber nicht in Unkenntnis belassen. Und er würde auch uns darauf aufmerksam machen. Was er als Hilfe anbietet, ist das Gebet, die Bitte um Kraft von oben. Dies wird auch für uns in vielen Fällen oft die einzige Rettung sein. Und sicher haben wir auch schon erfahren, dass Beten sehr wohl helfen kann, weil es Kraft verleiht.
Untereinander ein sein
Eins sollen wir untereinander sein. Es gibt keinen gesunden Menschen, der sich nicht nach dem Eins-Sein mit den anderen sehnt. Wie kommt es dann aber, so müssen wir fragen, dass das Eins-Sein und das Miteinander manchmal so spärlich und wenig zu finden ist?
Hindernis Egoismus
Ein erster Grund scheint mir der zu sein, dass der Egoismus in uns oft die Oberhand gewinnt. Wir erschlaffen oft in unserem Streben und Bemühen um Miteinander und Eins-Sein, sobald unsere Wünsche und Bedürfnisse abgedeckt sind. Wenn es uns gut geht, wenn unser Weiterkommen gesichert ist, dann sind wir immer wieder in Gefahr, die Augen zu schließen und uns im warmen Nest einzuigeln. Die kleinen und großen Sorgen der anderen, ihre zerbrochenen Hoffnungen und Enttäuschungen, ihre finanzielle oder seelische Not, ihr Ringen und Kämpfen, interessieren uns dann oft nicht weiter in der Tiefe unseres Herzens. Ja manchmal rauschen sogar ihr Glück, ihre Erfolge, ihre frohe Stimmung an uns vorüber. Wir freuen uns nicht intensiv mit ihnen, vergessen zu gratulieren, finden keine Worte des Lobes und der Mitfreude.
Es ist richtig, dass wir nicht mit allen Menschen dieser Erde innig verbunden sein können. Aber wo wir für das Eins-Sein wach sind und Wert darauf legen, gelingt uns vieles, vieles mehr als das, was wir manchmal in der Praxis leben. Das Schöne bei der gegenseitigen Aufmerksamkeit ist, dass wir selbst dabei an Freude, Glücksgefühl, innere Zufriedenheit gewinnen - auch wenn das aufeinander Aufmerksam-Sein Mühe kostet und uns mit den Nöten anderer belastet. Das Sprichwort "Geteiltes Leid ist halbes Leid - und geteilte Freude, ist doppelte Freude" ist einfach wahr und Jesu Anliegen nachempfunden.
Hindernis Angst vor Vielfalt
Den zweiten Grund, warum wir oft nicht näher zusammenrücken, sehe ich darin, dass wir zu wenig gelernt haben, an Vielfalt Freude zu finden. Zu schnell machen wir manchmal unser Denken und Empfinden, unsere Vorstellungen, Meinungen und Ideen, unsere Art zu leben, zum Maßstab auch für die anderen. Unser Denken, unsere Vorstellungen, unsere Art mögen ja für uns richtig sein; aber wir Menschen sind halt auch sehr verschieden. Es gibt viele Weisen, gut und richtig zu handeln. Es gibt viele Wege, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Es gibt viele Formen, Glauben lebendig zu leben. Uns diese Unterschiede gegenseitig zuzugestehen oder gar Freude daran zu entwickeln, dass der andere ganz anders ist als ich, das vergessen wir oft.
Ein Weg, aus dieser Falle heraus zu kommen, in die wir oft unversehens laufen, sehe ich im Bedenken, dass Vielfalt enorme Chancen hat. Wie schön ist es, wenn etwas auch einmal anders gestaltet wird als wie es immer war. Veränderungen, neue Ideen bringen Lebendigkeit, bewahren vor Routine, halten wach, weil sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wichtig dabei ist: Hinter der Veränderung müsste die Absicht stehen, mit meinem Beitrag will ich das Gemeinsame fördern. Es gibt auch Fälle, wo jemand nur angeben und sich darstellen will. Das ist nicht gut. Aber wo in der Vielfalt, im Andersartigen als sonst die Absicht des Dienens und der Wille zu Mitgestaltung liegt, dort sollten wir alle Versuche von Veränderung begrüßen - unabhängig davon, ob sie gelungen sind oder nicht oder ob sie mir gefallen oder eher nicht zusagen.
Hindernis Versagen
Ich möchte noch einen dritten Punkt nennen, der uns das Eins-Sein erschwert. Wir Menschen haben Fehler und wir versagen. Oft geht das auch auf Kosten der anderen. Wenn ich mich nicht täusche, dann reagieren wir bei Verletzungen gewöhnlich in der Form, dass wir zum anderen auf Abstand gehen. Und wenn wir uns äußern, dann meistens in der Form der Anklage. Anklage aber bewirkt immer Kluft.
Auch hier sehe ich einen Weg, wie eine Brücke zum Nächsten gebaut werden könnte. Unrecht, das wir durch andere erfahren, tut immer weh und verführt uns daher leicht zu Zorn und Verurteilung. Mein Vorschlag heißt: Bei unseren Verletzungen bleiben, nicht in Zorn ausbrechen, vielmehr dem Verursacher klagen, was uns verletzt hat. Bitte: nicht an-klagen, sondern klagen.
Wir brauchen den Mut zu berechtigter Klage. Sie hilft dem anderen, sich mit mir zu befassen und über sich nachzudenken. Anklage verurteilt. Die Klage dagegen lässt dem anderen den Raum, sich zu besinnen:
Habe ich zu unüberlegt und unbedacht gehandelt?
Was hat mich zu meinem Verhalten bewogen?
Wie könnte ich wieder besser ins Miteinander kommen?
Im Gegensatz zur Anklage, die Gräben schafft oder vertieft, liegt in der Klage ein Doppeltes: Sie bringt zur Sprache, was weh tut, und eröffnet den oder dem anderen die Chance, ohne Gesichtsverlust neu mit Liebe und Verständnis auf den Klagenden einzugehen.
Eins-Sein mit Gott und untereinander
Eins-Sein mit Gott und untereinander ist das Thema des heutigen Evangeliums und das Anliegen Jesu. Eins-Sein mit Gott und untereinander ist das Ziel, das wir anstreben sollen. Denn Jesu möchte einmal alle bei sich haben in einer liebenden Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft soll ein Stück schon auf Erden beginnen, nicht erst in der Ewigkeit. Dass Eins-Sein hier auf der Erde in einem möglichst großen Umfang möglich werde, darum lasst uns - wie Jesus - den Vater immer wieder inständig bitten.
Manfred Wussow (2007)
Bernhard Zahrl (2001)
Johann Pock (1998)