Abschiedsrede
Kein leichtes Unterfangen: Jesus hält eine, seine Abschiedsrede. Seine Jünger sind um ihn versammelt. Stellen wir uns doch dazu! Noch wissen wir nicht, was uns erwartet. Was soll, was kann Jesus sagen? Dass wir jetzt alleine zurechtkommen müssen? Hoffentlich auch genug gehört und gesehen haben? Endlich zeigen können, was wir gelernt haben?
Nichts von alledem sagt Jesus. Jesus spricht von der Liebe. So, als ob es von ihr keinen Abschied geben wird. Geben kann. Liebe verbindet. Sie lebt auf. In der Liebe bleibt Jesus bei uns - und wir bleiben bei ihm. Während sich die Wege äußerlich trennen, führen sie auffälligerweise sogar zu einander. Eine ganz neue Weg-Erfahrung! Alles, was Jesus gesagt hat, leuchtet weiter. Ein Satz gefällt mir besonders gut: Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen. Da geht mir das Herz auf!
Waisenkinder
Verweilen wir doch ein wenig bei den Waisen! Vielleicht gehört es zu den schlimmsten Erfahrungen, die Menschen machen können, dass sie Waisen werden - oder Waisen zurückzulassen (müssen). Mit dem Wort "Waise" ist die Todeserfahrung verbunden. Das Wort drückt Verlassenheit aus. Es gibt keinen Vater, keine Mutter.
Seit langer Zeit hat das Wort "Waise" auch neue Erfahrungen in sich aufgenommen. Menschlich tut es sehr weh, auf einmal alleine zu sein. Gemeinsame Wege können auseinander gehen oder Beziehungen brechen. Menschen trauern, sie fühlen sich verlassen, vielleicht auch verraten. Irgendwann stellt sich Wut ein. Wenn wir darüber reden können, fällt uns das Bild von der Achterbahn ein. Es geht hoch und runter, alles schnell - und im Wagen ist keine Bremse. Bei jedem Menschen verläuft eine solche Phase auch anders. Sie kann tief depressiv sein, sich in Flucht verwandeln oder auch eine ungeheure Aggressivität entfalten.
Im übertragenen Sinn fühlen sich viele Menschen auch von Gott verlassen und verraten. Sie fühlen sich wie Waisen. Gott hat sich zurückgezogen. Er hat sich einfach still und leise davon gemacht. Er ist nicht mehr da. Ob das nur eine moderne, zeitgenössische Erfahrung ist? Haben nicht auch schon die Jünger die Erfahrung gemacht, verlassen zu werden? In der frühen Kirche haben Christen sehnsüchtig darauf gewartet, dass Jesus bald wiederkommt. Also: Zurückkommt. Wir warten auch auf ihn. In bedrohlichen Situationen stellen wir die Frage nach dem "warum" - und können sie doch nur aushalten, wenn wir uns als Menschen aneinander festhalten. In den Psalmen schon rufen, schreien Menschen nach Gott. Wo finden wir dich, Herr? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Meine Gedanken wandern. Dann höre ich Jesus sagen: "Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird."
Beistand
Die Fragen, die wir angerissen haben, sprechen wir im Gebet aus. Sie trennen uns dann nicht, sie bringen uns dann auch nicht gegeneinander auf. Auf viele Fragen haben wir keine Antworten. Jesus möchte, dass wir ihn lieben und seine Gebote halten. Dann ist er, dann ist Gott da - und nicht fern.
Ein Abschiedsgeschenk aber macht uns Jesus: wir bekommen seinen Geist geschenkt. Beistand wird er hier genannt. Einer, der uns beisteht. Einer, der für uns spricht. Einer, der uns vertritt. Ein Advokat also! Die Waisen bekommen einen Anwalt.
Es ist zwar richtig, dass wir als Menschen - und auch als Kirche - oft das Gefühl haben, allein gelassen zu sein, aber eine größere Zusage könnte uns nie und nimmer gemacht werden als die, den Geist Jesu, den Geist Gottes geschenkt - und anvertraut - zu bekommen. Die Klage, verlassen zu sein, verwandelt sich in die Freude, an der Liebe Gottes teilzuhaben. Am besten merken wir das, wenn wir unsererseits anderen Menschen auf ihrem Weg beistehen, für sie eintreten - und Anwälte des Lebens sind. Für einsame, kranke und abgeschriebene Menschen. Für traurige, gescheiterte und schuldig gewordene Menschen. Für Menschen, die nicht einmal das Licht der Welt erblicken sollen, für Menschen, die als Kostenfaktoren die Statistiken versauen. Heute wird uns die Rolle des Verteidigers auf den Leib geschneidert - morgen könnte es sein, dass wir in die Rolle des Anklägers schlüpfen müssen.
Das Bild vom Advokaten - für den Geist Jesu, für den Geist Gottes - wird zu einem Bild voller Hoffnung für unser Leben. Das Gefühl, wir seien ganz allein, ist depressiv, zu depressiv, um vor Gott und den Menschen vertreten werden zu können. Wir würden uns immer nur klein machen können - und uns verloren geben. Uns verlieren! Was ist das für ein Abschiedsgeschenk: den Geist Jesu zu haben!.
Und wenn wir schon einmal bei Abschiedsgeschenken sind: Ich möchte Jesus auch ein Abschiedsgeschenk machen. Geschenkpapier und Schleife brauche ich dafür nicht. Aber ich möchte ihm meine Liebe schenken - und seine Gebote halten. Die Gebote seiner Liebe. Ich habe viele Gelegenheiten, in seinem Geist zu fragen - und etwas zu tun. Auf d e n guten Geist kommt es an.
Abschiedsrede
Abschiedsreden sind große Kunst! In ihr dürfen die Worte nicht versagen, die Augen nicht vertränen, die Trauer nicht überhand nehmen. Jesus hält eine, seine Abschiedsrede. Seine Jünger sind um ihn versammelt. Wir auch. Was soll, was kann Jesus sagen? Dass wir jetzt alleine zurechtkommen müssen? Hoffentlich auch genug gehört und gesehen haben? Endlich zeigen können, was wir gelernt haben?
Nichts von alledem sagt Jesus. Aber er schenkt uns seinen Geist. Was soll ich sagen? Wir kommen jetzt alleine zurecht. Wir haben alles gehört und gesehen. Wir können endlich zeigen, was wir gelernt haben! Wir haben einen guten Anwalt! Wenn wir etwas nicht sind, dann allein.
Herzlich willkommen beim Advokatentreffen!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.