Ein Ziel haben
Das heutige Evangelium ist ein Ausschnitt aus den Abschiedsreden Jesu. Diese sollen die Jünger vorbereiten für die Zeit, wo sie - auf sich gestellt - ohne Jesus leben müssen. Damit nicht Verwirrung unter ihnen entsteht, Ratlosigkeit oder gar Panik sich unter den Jüngern ausbreitet, will Jesus zur Sprache bringen, was die Jünger beherzigen müssen, damit Zukunft gelingt. Wie muss der Weg verlaufen, wie das Leben aussehen, das erfülltes Leben werden soll? Das ist die Kernfrage des heutigen Evangeliums.
Als erstes verweist Jesus die Jünger und uns auf das Ziel. Ziel des Lebens ist eine enge Gemeinschaft mit ihm. Für ein paar Jahre konnten die Jünger sie hier auf Erden auskosten. Aber die auf Erden begonnene Gemeinschaft mit Jesus soll über das irdische Leben hinaus für immer bestehen. Die Zubereitung der himmlischen Wohnung gehört also ebenso zur Aufgabe Jesu wie sein Wirken auf der Erde. Jesus möchte, dass die Jünger erkennen: Wenn Jesus sie verlässt, verabschiedet er sich von ihnen nicht für immer, zieht er sich nicht in einen unzugänglichen, göttlichen Bereich zurück. Sie werden von ihrem Herrn und Meister nicht allein oder gar im Stich gelassen werden. Ganz im Gegenteil: Jesus bereitet den Ort vor, der Heimat sein soll, der Himmel ist, weil dort ungebrochen Gemeinschaft möglich wird mit ihm, dem Vater und allen Menschen.
Den Weg zum Ziel wissen
Das zweite Anliegen, das Jesus den Jüngern nahe bringen will, bezieht sich auf den Weg, der in diese himmlische Gemeinschaft führt. Der Einwurf des Thomas, dieser Weg sei völlig unbekannt, lässt aufhorchen und uns selbst fragen: Kenne ich den Weg?
Eigentlich müssten wir diesen Weg kennen wie Thomas ihn kennen müsste. Der Weg ist der, wie ihn Jesus gegangen ist. Im Gegensatz zu den Propheten war Jesus nicht nur ein Wegweiser, der auf Gott und seine Weisungen verwies. Jesus lebte, was er verkündete. Eins mit dem Vater lebte er in Gott und handelte er aus Gott. So kann er sagen: Ich bin der Weg.
Diesen Weg sollen auch die Jünger und alle Christen einschlagen. Das heißt: In unserem Wesen, im Denken und Verhalten sollen wir immer mehr hineinwachsen in das Wesen Jesu. Seine Art zu denken, den Menschen zu begegnen, zu handeln und das Leben zu gestalten soll uns prägen. Auch wir sollen in der Welt und für die Welt mehr sein als nur Verkünder und Hinweisende auf Gott oder Christus. In unserer Nachfolge sollen wir regelrecht verschmelzen mit Jesus, eins werden mit ihm, wie er eins war mit dem Vater. Dies ist eindeutig das Ziel, auch wenn wir als Menschen es nie so umfassend verwirklichen können, wie es Jesus gelang. Aber wo wir das Streben nach diesem Ziel des Einsseins mit Christus nicht aufgeben, dort sind wir auf dem rechten Weg.
Dabei ist es unerheblich, ob wir etwas oder viel bewirken. Auch Jesus hat nur begrenzt Erfolge erzielt. Misserfolge, Verkennung durch andere sollen uns nicht beunruhigen oder nervös machen. Wo wir lebendig und strebsam um den Weg Jesu ringen, ist unser Leben Zeugnis und Verkündigung. Darauf sollen wir alle Kraft und Aufmerksamkeit lenken und uns nicht unnötig oder verzagt sorgen, wenn Menschen unserer Umgebung sich Jesus nicht oder nur zögerlich anschließen oder unsere Art zu leben ablehnen.
Wunder wirken
Wo wir den Weg Jesu gehen, dort verheißt uns Jesus: Ihr werdet Werke vollbringen, die ich vollbracht habe. Bei diesem Satz werden wir wahrscheinlich erst einmal gestutzt haben mit der Frage: Übertreibt Jesus hier nicht? Können wir z.B. - wie er - Wunder wirken?
Natürlich können wir keine Toten erwecken, Blinde oder Aussätzige heilen, Brot vermehren, einen reichen Fischfang ermöglichen. Aber ist es nicht auch ein Wunder, wenn wir – weil wir in das Wesen Jesu eintauchen - z.B. aufhören, uns zu rächen?
Rache, die uns lähmt, gut zu sein, die uns innerlich ganz krank machen kann, wird beim Eintauchen in das Wesen Jesu von uns verwandelt in die Lebendigkeit der Versöhnung. Jedes Mal, wo wir Böses mit Gutem vergelten, wirken wir ein Wunder. Wir erwecken Totes, Gelähmtes, Krankes in uns zum Leben. Wir vertreiben - wie Jesus - Dämonen. In unserem Beispiel ist es der Dämon Rache, der uns antreibt, bei der Widervergeltung nicht harmlos oder zögerlich zu sein, sondern drein zu schlagen, zu quälen, zu zerstören, die empfindlichen Stellen beim anderen zu treffen und uns obendrein an all dem auch noch zu ergötzen und zu weiden.
Wunder können wir manchmal auch bei anderen wirken. Jesus konnte Wunder immer nur dort vollbringen, wo sich Menschen ihm oder Gott öffneten. So ist es auch bei uns. Weil Zachäus sich Jesus öffnete, geschah in ihm Umkehr. Weil Maria Magdalena sich von der Liebe Jesu berühren ließ, wandelte sie ihr Leben. Die Wunder geschehen, das sollten wir aufmerksam beachten, weil die Menschen zuvor dem liebevollen Wesen Jesu begegnet waren. Wo wir in das Wesen Jesu eintauchen, wo wir den Menschen in Jesu Art begegnen, machen wir es den anderen leichter, sich für das Gute zu öffnen, sich zu wandeln. Je echter wir den Weg Jesu gehen, umso mehr können wir Anlass sein, das Wunder sich anbahnen und vollziehen.
Jesus gibt die Kraft dazu
Alle, die bei den bisherigen Gedanken noch zögerlich sind, eher zurückhaltend als begeistert reagieren, alle die noch nicht wissen, ob sie den Worten Jesu uneingeschränkt trauen sollen, die im Blick auf das eigene Versagen mehr ihre Grenzen als ihre Möglichkeiten vor Augen haben, spricht Jesus am Ende noch einmal persönlich an: Alles, um was ihr mich bittet, werde ich euch gewähren. Jesus hat hier sicher nicht all die menschlichen Bitten und Wünsche im Blick, die - angefangen von Sechs Richtigen im Lotto, eine gute Note im Zeugnis, das Bestehen einer Prüfung, Bewahrung vor einem Unfall, die glückliche Rückkehr von einer Reise - alltäglich an Gott herangetragen werden.
Im Zusammenhang mit seinem Anliegen, uns auf den Weg zu schicken, der er selbst ist, ist sein Augenmerk sicher gerichtet auf jene Bitten, die wir aussprechen, um diesen Weg gehen zu können. Es ist die Bitte um innere Kraft, um seinen Beistand und Segen, um Vertrauen in ihn, um charakterliches Wachsen, um Mut und Ausdauer, um Herzensstärke. Jesus sagt uns die Erhörung dieser Bitten zu. Und damit die Jünger spüren, dass er es nicht einfach nur so dahin sagt, sondern sich sehr bewusst ist, was er verspricht, fügt er hinzu: Ich erhöre eure Bitten nicht nur, weil ich euer Freund, euer Herr und Meister bin, sondern vor allem, weil ihr im Gebrauch dieser erbetenen Gaben den Vater im Himmel ehrt.
Herzlicher und freundlicher, werbender und überzeugender, noch eindringlicher bittend als mit den Worten des heutigen Evangeliums kann Jesus uns Menschen wohl nicht mehr einladen und anstoßen, seinen Weg zu gehen - den Weg tiefer Freundschaft schon hier auf Erden und anknüpfender inniger Gemeinschaft mit ihm, dem Vater und allen Menschen im Himmel.
Mögen Jesu Worte uns tief im Inneren berühren und auf seinen Weg führen. Erbitten wir von ihm jene Kräfte, mit denen auch wir Wunder der Wandlung, der Auferstehung zu neuem Leben und der Dämonen-Vertreibung bewirken können.