Im Bild des Hirten vergleicht sich Jesus als der "gute Hirt" mit einem Mietling. Unter seiner Obhut und mit seiner uns verliehenen Kraft vermögen wir mehr, als wenn wir uns nur auf uns selbst verlassen. Ihm, der in seiner Auferstehung gezeigt hat, dass er sein Leben hingeben und es sich neu nehmen kann, dürfen wir glauben und uns mit unserem Leben anvertrauen.
Das Markenzeichen des guten Hirten
Der Evangelist Johannes berichtet im Vergleich mit den anderen Evangelisten weitaus weniger Wunder als diese. Dafür fügt er den Wunder- oder Gleichnisberichten sehr häufig eine Selbstdarstellung oder Selbstoffenbarung Jesu hinzu. Im heutigen Evangelium begegnen wir einer solchen Selbstdarstellung Jesu.
Im Bild des Hirten vergleicht sich Jesus als der "gute Hirt" mit einem Mietling. Das Bild des "guten Hirten" war für die Israeliten ein geläufiger Begriff. Als Auszeichnung und Ehrentitel wurde er jenen Persönlichkeiten beigegeben, die sich um das Volk Gottes in besonderer Weise verdient gemacht hatten wie z.B. Moses, David, Salomo. Für das Volk sorgen, es auf guten Wegen führen und im Glauben an Jahwe bewahren. Das waren die Bilder und Vorstellungen, die jeder mit dem Begriff "guter Hirte" verband. Dabei schwang sehr deutlich mit: Die Sorge um das Volk und die Menschen diente nicht dem eigenen persönlichen Profit, sondern war auf die Vorteile, das Wohlergehen und Heil aller im Volk ausgerichtet.
Diese ganz der Herde sich hingebende Fürsorge, der Verzicht, selbst dabei Gewinn für sich herauszuschlagen, die Bereitschaft, ein Höchstmaß an Mühe ohne Lohnansprüche auf sich zu nehmen, das war das Markenzeichen des guten Hirten. Jesus greift dieses Bild für sich auf und verstärkt es noch mit dem Hinweis, nicht nur alle denkbare Mühe auf sich zu nehmen, sondern sogar das Leben für die Herde einzusetzen.
Bereit, das eigene Leben einzusetzen
Und nun kommt das Entscheidende, nämlich die Begründung seiner Haltung und damit die Offenlegung seines Wesens. Jesus sagt: Ich kenne den Vater, wie mich der Vater kennt. Das biblische Wort "kennen" bedeutet mehr als unser deutsches Wort "kennen". Es geht über das, was wir normaler Weise darunter verstehen, von jemandem etwas oder viel wissen, hinaus. Das biblische Wort "kennen" besagt: Ich bin eins mit dem, den ich kenne. Seine Gedanken, seine Absichten und Ziele, sein Wollen sind auch ganz meine Gedanken, meine Absichten und Ziele, mein Wollen. Jesus macht deutlich: So wie Gott sich um jeden einzelnen sorgt, müht, um ihn ringt, weil er ihn liebt, so sehr liegt mir jeder einzelne am Herzen. Darum bin ich bereit, alles, selbst mein Leben, einzusetzen und hinzugeben.
Dabei legt Jesus Wert darauf, dass seine Bereitschaft, das Leben hinzugeben, seine ganz persönliche Entscheidung ist. Er gibt sein Leben nicht, weil man es ihm entreißt und er sich nicht wehren könnte. Niemand kann ihm das Leben gegen seinen Willen nehmen; wenn er es hingibt, geschieht dies aus freien Stücken. Zur Hingabe des Lebens ist Jesus bereit, weil er um nichts in der Welt Abstriche von der Liebe zu machen bereit ist. Und seine Liebe, seine Sorge, sein Mühen gelten nicht nur dem Volk Gottes, sondern allen Menschen. Jesus drückt dies aus mit den Worten: "Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen". Weil eine umfassende, ausnahmslose Liebe in Jesus ist, darum gleicht er dem Vater, ist er eins mit ihm.
Die Stimme des Hirten hören
Nachdem Jesus so sein Wesen kundgetan hat, liefert er auch ein Stichwort für das Wesen der Schafe: "die Meinen kennen mich". Wieder ist das Wort "kennen" im biblischen Sinn gebraucht. Zu Christus gehört, wer sich bemüht, Grundzüge des Wesens Jesu - sein Denken, sein Wohlwollen, sein Handeln, seinen Charakter - in das eigene Wesen einfließen zu lassen. An anderer Stelle im Evangelium wird das Gleiche ausgedrückt mit den Worten: Sie hören auf meine Stimme.
Mit dem Hinhören auf Jesus beginnt und vertieft sich unser Christ-Sein. Wer auf die Weisungen Jesu achtet, so soll uns immer wieder bewusst werden, kann sich vor Abwegen und Irrwegen bewahren. Er findet in der Botschaft Jesu Nahrung für Geist, Herz und Seele. Im Hinhören auf Jesus kann Totes, Abgestorbenes in uns wieder lebendig werden, können Verwundungen leichter heilen, werden uns viele neue Ideen kommen, unserer Liebe Ausdruck zu verleihen.
Im Hinhören auf Jesus legen wir wie von selbst den Herdentrieb ab, der uns tun und sich verhalten lässt, was alle tun, wie alle handeln und sich verhalten. Im Hinhören auf Jesus werden wir zu Menschen, die das Leben und den Alltag beherzt anpacken und im Geiste Jesu Gestalt geben - mit unserer persönlichen und ganz individuellen Eigenart. Wir werden ein entschiedenes Ja zu einem christlichen Leben sagen und uns davon auch dann nicht abbringen lassen, wenn wir Spott, Leid, Ablehnung, Benachteiligung ernten und erfahren.
Sich dem Guten Hirten anvertrauen
Jesus als Leitbild für uns annehmen und sich ihm als Hirten anschließen, bedeutet: In den Schutzbereich dessen eintauchen, der nicht wie ein Mietling flieht, sobald uns Gefahr droht. Jesus sichert uns zu, dass zu seinem Wesen das uns Behüten und Bestärken gehört. Unter seiner Obhut und mit seiner uns verliehenen Kraft vermögen wir mehr, als wenn wir uns nur auf uns selbst verlassen. Ihm, der in seiner Auferstehung gezeigt hat, dass er sein Leben hingeben und es sich neu nehmen kann, dürfen wir glauben und uns mit unserem Leben anvertrauen. Wir werden in der beschützenden Kraft Jesu nicht nur im Sterben dem Tot-Sein für alle Zeiten entrissen; nein, schon in dieser Welt wird uns mehr an Lebendigkeit und Kraft verliehen.
Erproben wir dies im Alltag und überzeugen wir uns auf diese Weise, dass Jesu Worte und Verheißungen wahr sind.
Anni und Alois Mantler-Schermann (1997)