1. Lesung vom Hochfest der Geburt des Herrn - Am Morgen:
Jes 62,11-12
Lesung aus dem Buch Jesaja:
Hört, was der Herr bis ans Ende der Erde bekanntmacht:
Sagt der Tochter Zion:
Sieh her, jetzt kommt deine Rettung.
Siehe, er bringt seinen Siegespreis mit:
Alle, die er gewonnen hat, gehen vor ihm her.
Dann nennt man sie «Das heilige Volk»,
«Die Erlösten des Herrn».
Und dich nennt man «Die begehrte,
die nicht mehr verlassene Stadt».
In prophetischen Schriften werden häufig Städte als Frauen angesprochen. "Die Stadt" ist auch im westsemitischen Kulturkreis grammatikalisch weiblich. Dahinter steht eine alte Vorstellung von Stadtgöttinnen: Städte bieten Schutz und Geborgenheit, sie ernähren ihre Bewohner, darum wurden ihnen weibliche Gottheiten zugeordnet, Israel übernimmt zwar die Metapher, aber nicht die dahinterstehende Göttinnenvorstellung. Sowohl fremde Städte als auch Zion, Jerusalem, werden als Töchter bezeichnet. Schon in Kapitel 1 ist die Tochter Zion die Verlassene, weil sie Gott untreu geworden und von ihm abgefallen ist. In Kapitel 2 wird sie als Dirne bezeichnet, weil ihr Fürsten eine Bande von Diebe ist und keine Gerechtigkeit mehr herrscht, trotzdem wird auch hier schon gesagt, daß Gott Zion retten wird, daß er sie nicht in diesem Zustand des Unrechts läßt. Jerusalem wird dargestellt als kinderlose, unfruchtbar, verlassene und verstoßene Frau ( 49,21; 54,1-6) Gott selbst wird wieder gutmachen, was sich die Stadt durch ihr Verhalten zugezogen hat. Die "Kinder" der Stadt werden zurückgebracht, die Ehre und Versorgung einer israelitischen Frau. Im Orient hatte der Mann das Recht seine Frau zu verstoßen und sie kinderlos und unversorgt zu verlassen. Zion hatte sich die Verstoßung durch ihre Untreue verdient. Die Kapitel 49 und 62 zeigen Gott als den einsichtigen Ehemann, der das volle Ausmaß der Not und der Hilflosigkeit der verlassenen und unversorgten Frau erkennt und sie wieder zu seiner Braut macht. Zion ist für Gott keine ebenbürtige Partnerin, sie ist keine Stadtgöttin, sondern sie ist das, was Gott ihr schenkt. Ihr Heil kommt von Gott, alle Ehrentitel, die ihr gegeben werden, kommen ihr nicht aus eigenem zu, sondern durch das Handeln Gottes. Im Bild des Bräutigams/Ehemanns legt der Prophet wert auf die verständnisvollen, barmherzigen Züge Gottes. Neben den vielen anderen Bildern, die er für Gott verwendet, kann dieser unkonventionelle Mann gut stehen bleiben.
Die Lesungsperikope ist dem dritten Teil des Jesajabuches entnommen. Dieser ist unmittelbar nach der babylonischen Gefangenschaft etwa um das Jahr 520 entstanden und versucht, die neu errungene Freiheit und Eigenständigkeit theologisch zu deuten: Gott hat sich seinem Volk wieder zugewandt. Die Aufbruchstimmung ist eng mit dem Wiederaufbau des Tempels und Jerusalems verknüpft. Die Heimkehr des Volkes wird wie die Rückkehr eines siegreichen Heeres gefeiert, das durch die Führung Gottes einen Sieg errungen hat. Alt und vom ersten und zweiten Teil des Jesajabuches her bekannt ist das Motiv des bedingungslosen Vertrauens in den Beistand Jahwes. Hinzu kommt eine universalistische Denkweise, die das Heil aller Völker in den Blick nimmt, während es in früheren Epochen ausschließlich um das Heil des auserwählten Volkes ging. Die Namen des Gottesvolkes sind das Programm, das es nun zu erfüllen gilt: "das heilige Volk", "die Erlösten des Herrn" und "die begehrte, die nicht mehr verlassene Stadt" bezeichnen eine Naheverhältnis zu Gott, das einerseits sichtbar und spürbar geworden ist, andererseits im Leben des Volkes verwirklicht werden soll.
Regina Wagner (1999)
Hans Hütter (1996)