Bis hierher und nicht weiter
Vor gut 20 Jahren hat sich für die Pastoral unserer Gemeinden ein neues Format in der Weitergabe des Glaubens entwickelt: Glaubenskurse. In einer angenehmen Atmosphäre, getragen von gemeinsamen Gebet und Gesang werden wichtige Fragen des Glaubens aufgegriffen. Nach einem kurzen thematischen Impuls werden die Inhalte in Kleingruppen in gemeinsamen Gesprächen vertieft.
Spannend werden diese Gespräche dann, wenn Menschen daran teilnehmen, die Kirche und Gemeinde eher distanziert gegenüber stehen. Und denen unsere biblische Erzählungen und liturgischen Tradition nicht sehr vertraut sind. Denn oft hinterfragen sie scheinbare Sicherheiten. Und können dabei helfen, biblische Geschichten auf eine neue Weise zu lesen und zu verstehen.
So auch bei einem Gespräch über das bekannte Gleichnis vom barmherzigen Vater. Zwei unterschiedliche Söhne eines Vaters. Einer lässt sich das Erbe auszahlen, zieht in die Welt hinaus und verprasst das ganze Geld. Als er nahe am Verhungern ist, erinnert er sich an zu Hause und beschließt heimzukehren. Um zumindest als Tagelöhner seines Vaters überleben zu können. Wir alle kennen die überwältigende Reaktion des Vaters: Mein Sohn war tot und er lebt wieder. Wie schön, dass Gott uns diese Möglichkeit der Umkehr und Vergebung schenken möchte. Wir alle haben gelernt: Gott verzeiht. Immer wieder. So schlimm es auch sein mag, wir dürfen immer wieder zu Gott zurückkehren.
Für Menschen, denen diese Texte nicht so vertraut sind, ist diese Interpretation nicht so eindeutig. Denn die erleben in ihrem Umfeld eine ganz andere Haltung. Väter und Mütter, die in der Erziehungsverantwortung stehen sprechen davon, dass man irgendwann auch mal einen Riegel vorschieben muss. Bis hierher und nicht weiter. Eheleute schätzen sich gegenseitig so ein, dass sie sich deutlich machen: Irgendwann ist Schluß. Alles lasse ich mir nicht gefallen.
Manchmal gelingt es dann im Gespräch, nach den Motiven zu fragen. Warum fällt es schwer, mehrmals zu verzeihen? Immer wieder mit einem Menschen einen neuen Anfang zu wagen? Bittere Enttäuschung kann ein solches Motiv sein. Wut. Trauer. Es verletzt mich. Ich lasse nicht auf meinen Gefühlen herumtrampeln. All diese und andere Gefühle machen es Menschen schwer, sich wie der barmherzige Vater zu verhalten.
Gott kann sich barmherzig zeigen, weil sein Verhalten eben nicht von diesen Gefühlen geleitet wird. Deshalb kann er mich mit reiner Liebe anschauen. Deshalb nimmt er mich immer wieder als Sohn oder Tochter an. Deshalb schenkt er mir immer wieder einen neuen Anfang.
Unser Glaube sagt, dass Christus am Kreuz nicht nur unsere Sünden auf sich genommen hat. Sondern auch all das, was es uns schwer macht zu glauben. Am Kreuz nimmt er auch all unsere Wut, Trauer, Enttäuschung und Unvermögen auf sich. So werde ich frei, wirklich lieben zu können. Er gibt mir die Freiheit zurück, selber gut zu sein. Immer wieder neu!
Aggression und Gewalt
Ich lade Sie ein, auf diesem Hintergrund die Botschaft des heutigen Evangeliums zu lesen. Die Kirche setzt heute die Weisungen der Bergpredigt fort, die uns schon seit einigen Sonntagen begleiten. Denn in ihnen zeigt uns Jesus diesen Weg in die Freiheit.
Gerade die heutigen Texte greifen das schwierige Thema von Aggression und Gewalt auf. Auf der einen Seite gehören Aggression und Gewalt zur evolutiven Geschichte des Menschen. Als Teil der Natur unterliegen wir den Gesetzen der Natur. Zu diesen Gesetzen gehört das aggressive Durchsetzen der eigenen Interessen, denn nur so kann das eigene Leben oder das Überleben des Rudels gesichert werden.
Zur Entwicklung des Menschen gehört aber auch die Erkenntnis, dass unsere Spezies nur dann überleben kann, wenn sie diesen aggressiven Wesenszug der Evolution Grenzen setzt. Die Theologen des ersten Testamentes haben dies erkannt und überwanden die Regel der Blutrache. Keine Sippenhaftung mehr, sondern Auge für Auge und Zahn für Zahn. Aber dann muss der Lauf der Aggression ein Ende haben.
Leben in der Freiheit, wie sie Gott uns schenkt
Dies dämmt zwar den Schaden, den die Aggression uns Menschen zufügt, tatsächlich ein. Gehorcht aber immer noch den Gesetzen der Natur. Christus lehrt uns aber, dass Gott den Menschen dazu ruft, dieses Gesetz zu überwinden und in der Freiheit zu leben, die Gott uns schenkt.
Und in dieser Freiheit ist der Mensch dann fähig, auch die andere Wange hinzuhalten. Dem, der uns Böses antut, keinen Widerstand zu leisten. Und dem, der mir das Hemd wegnehmen will, auch noch den Mantel zu lassen. Unter dem Gesetz der Natur ist es für den Einzelnen wichtig, dass das eigene Rudel überlebt. Sonst hat er keine Chance. In der neuen Freiheit, die Gott uns ermöglicht, können wir aber diese engen Grenzen überwinden: Wir können nicht nur unsere Brüder grüßen, sondern auch die Anderen. Nicht nur unsere Freunde lieben, sondern auch unser Feinde. Nicht nur in unseren eigenen Anliegen beten, sondern auch in den Anliegen der ganzen Welt.
Als Menschen, die schon lange auf dem Weg der Nachfolge Christi sind, wissen wir: Das mit den Geboten der Bergpredigt ist gar nicht so einfach. Immer wieder fallen wir in die alten Verhaltensmuster hinein. Deshalb ist es gut, dass das Evangelium in vielen Bildern und Geschichten von Gott erzählt. Wie zum Beispiel im Gleichnis des barmherzigen Vaters, das in den Glaubenskursen eine so große Rolle spielt. Und wie schön ist es, wenn Menschen, denen die Texte der Heiligen Schriften nicht mehr vertraut sind, uns durch ihre Fragen einen neuen Zugang ermöglichen. Dass Gott uns in der Freiheit seiner Liebe die Möglichkeit eines Neuanfangs schenkt. Nicht nur einmal, sondern immer wieder.