Die Lesung des heutigen Tages aus dem AT trägt deutlich die Züge einer Berufungsgeschichte: Berufung nicht eines einzelnen Menschen, sondern Berufung eines ganzen Stammes zum "Volk Gottes".
Gott zeigt sich
Mit den ersten Versen der Lesung werden wir in die äußere Situation eingeführt. Folgendes Bild soll in uns entstehen: Da gibt es einmal den Berg Sinai. Er ist der hl. Berg, der Berg Gottes, der Berg der Begegnung mit Jahwe und seiner Gnade. Mose steigt zu ihm empor, wenn er Verbindung mit Jahwe sucht. Auf diesem Berg erhält Mose von Gott die zehn Gebote. Von diesem Berg herab offenbart sich Jahwe seinem Volk.
Gegenüber dem heiligen Berg, dem Bereich Gottes, lagern, so wird berichtet, die Israeliten. Sie sind ausgezogen aus Ägyptern, dem Land der Knechtschaft. Sie haben sich getrennt von einem Volk, das vielen Göttern huldigte und Menschen, ihre Pharaonen, zu Göttern erhob. Gehetzt, gejagt und unter mühseligen Strapazen sind die Israeliten endlich an dem Ort angekommen, wo sie unbehelligt ganz in der Nähe ihres Gottes Jahwe sich lagern und verweilen dürfen. Frei von Unterdrückung, Verfolgung und weiterer Flucht können sie zum ersten Mal Luft holen, sich innerlich sammeln und in Ruhe auf ihren Gott schauen, in dessen Nähe und Bereich sie ihre Zelte aufgeschlagen haben.
Und dann geschieht das Wunderbare, das Gott auszeichnet und sich später im Verhalten Jesu, seines Sohnes, auf Schritt und Tritt wiederholt: Gott wendet sich den Kleinen und dem Unscheinbaren zu. Diesem Volk, das in der Wüste umherirrt wie eine Herde ohne Hirten, das bitter arm und ohne jedes politische Ansehen dasteht, das von jeder Macht der Welt im Handumdrehen besiegt werden könnte, bietet Gott an, sein erwähltes Volk zu werden:
nicht um von nun an stolz und überheblich anderen Völker zu begegnen, nicht um mit der Hilfe Jahwes, dem Herrn der Welt, von nun an die Nummer eins unter den Weltmächten zu sein, sondern um Gottes Vorstellung vom Menschsein in die Welt zu tragen und sichtbar zu machen.
Ein priesterliches Volk
Um diese Aufgabe zu erfüllen, soll Israel ein Volk werden, das Gott gehört, das sich ihm so sehr hingibt, dass es "Eigentum" Gottes genannt werden kann.
Dieses neue Volk zeichnet aus, dass sein Streben nicht in erster Linie auf Macht, Besitz oder Reichtum ausgerichtet ist, sondern auf das, was Menschen zum Heile dient. Jahwe drückt dies aus mit den Worten: Ihr sollt ein "Reich von Priestern" werden. Den Priester, so war jedem Israeliten klar, soll auszeichnen:
- sein Hinhören auf Gott
- das Gebet und die Verehrung Gottes
- die Verkündigung der Weisungen Jahwes
Gott macht den Israeliten also klar: Diese dreifache priesterliche Aufgabe soll im Gottesvolk nicht allein an die berufsmäßigen Priester gebunden sein, sondern von allen Gläubigen im Volk ausgeübt werden. Und wer dies tut, der heiligt sich. Denn Gottes Gnade wird sein Wirken begleiten. Er wird Kräfte erhalten, die ihn befähigen, trotz menschlicher Schwäche das Gute für sich selbst und die Menschen immer wieder anzustreben.
Jahwe, der durchaus deutlich macht, dass er der Herr des Gottesvolkes sein will, lässt die Israeliten erfahren, in welcher Weise er seinem Volk vorstehen will. Er wird sich nicht aufspielen wie ein Diktator, sondern sich verhalten wie ein Partner. Von einem "Bund" ist die Rede, den Gott mit den Israeliten schließen möchte. Bei einem Bund geht es nicht um einseitige Einflussnahme, um dominierende Macht, sondern um innere Verbundenheit, um wohlwollendes Denken und Handeln füreinander, wie man es in einer guten Freundschaft oder einem gelungenen Ehebund erleben kann. Dass er, Jahwe, als der Mächtigere die Israeliten nicht aus der Position des Überlegenen behandeln wird, hat er bereits gezeigt beim Auszug des Volkes aus Ägypten: Auf "Adlerflügeln" trug er Israel.
Ein väterlich/mütterlicher Gott
Das Bild vom Adler gibt sehr gut das Verhalten Gottes wieder. Dem jungen Adler, der sein Nest verlässt und in einen neuen Abschnitt seines Lebens eintritt, wird nicht die Mühe des Lebens abgenommen. Wie Adlerleben aussieht und sich gestalten muss, kann das Junge sich bei seinen Eltern abschauen und von ihnen lernen. Aber fliegen muss das Junge selbst. Dabei wird es von seinen Eltern sorgfältig im Auge behalten und aufgefangen, wenn es ermüdet oder in Gefahr gerät. So versteht sich auch Gott. Von ihm soll das Volk lernen, was menschlichem Leben dient, was gut und richtig ist, indem es auf Jahwes Stimme hört und seine Weisungen beachtet. Aber die Mühe des Alltags, die Gestaltung des Lebens bleibt dem Volk aufgetragen. Dabei darf es sicher sein, dass Gott bei Ermüdung und Gefahr zur Stelle ist.
Wenn wir die Gedanken der Lesung auf unser Leben übertragen, dann scheint mir ein Stichwort von besonderer Bedeutung: sich lagern.
Unser Leben kennt ja alle Elemente des Volkes Gottes: eingepresst sein in Strukturen der Mächtigen, unter Zwang oder der Knute stehen, wehrlos ausgeliefert sein, gehetzt werden, Flucht ergreifen müssen, Wüste, Not, Wirren und Irrungen. Und wie dem Volk Israel so macht ja Gott auch uns das Angebot, seinem Volk anzugehören.
Ein Gott, der ausruhen lässt
Es ist wohl kein Zufall, dass der Bibelschreiber Gott sagen lässt: Ich habe euch hierher zu mir gebracht - also an jenen Ort, wo Israel einmal seinem Gott ganz nahe ist und sich auch lagern und innehalten kann. Denn die Tragweite des Angebotes Gottes, ihm zu gehören, und der Segen, der für uns Menschen aus einem Bund mit Gott erwächst, lassen sich nicht im Hasten und Vorübergehen erfassen. Man muss sich - wie Israel damals - niederlassen und lagern, durchatmen, innerlich wenigstens einigermaßen zur Ruhe kommen, um das Angebot Gottes in seiner Tiefe zu erfassen.
Wo dies nicht geschieht, besteht zu leicht die Gefahr, sich ein zu oberflächliches Bild von Gott zu entwerfen.
Gott bietet sich z.B. nicht an, in seiner Liebe zu uns ein Lückenbüßer für uns zu sein, der alles für uns regelt. Er traut uns vielmehr zu, dass wir nach seinen Weisungen unser Leben erst einmal selbst gut regeln können. Aber er begleitet uns, um uns aufzufangen, wo es nötig ist.
Bei Hast und Unruhe übersieht man auch leicht, in welchem Sinne Gott unser Herr sein möchte. Seine Weisungen sind in der Bibel oft in der Form von Geboten, Vorschriften oder Forderungen wiedergegeben und verdecken daher zuweilen den freundschaftlichen, partnerschaftlichen Zug in ihnen.
Ein Partner-Gott
Nehmen wir für uns aus diesem Gottesdienst das Bild des Partner-Gottes mit in unseren Alltag und in unser Leben. Auch wenn er der Herr der Welt ist, denkt Gott nicht daran, über uns zu herrschen. Vielmehr möchte er von sich aus mit uns in Verbundenheit, Liebe und Fürsorge durchs Leben gehen - als Freund und Partner ganz nahe an unserer Seite.
Wer in der Tiefe seines Herzens dieses von Achtung, Wertschätzung und Zuneigung getragene Verhalten Gottes uns Menschen gegenüber immer neu bedenkt, wird sich gern mühen, seinem Verhalten und Leben priesterliche Züge zu geben:
- Hinhören auf Gott,
- Gebet und Verehrung Gottes,
- Zeugnis für ihn in Wort und Tat.
Alfons Jestl (2008)
Lorenz Walter Voith (1999)