Eine neue Gerechtigkeit
"Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel kommen" (Mt 5,20). Jesus will die Menschen zu einer Gerechtigkeit hinführen, die größer ist als die von den Pharisäern und Schriftgelehrten geübte Praxis. Jesus setzt neue Maßstäbe.
Treue zum Bund.
Im Alten Testament wird die Gerechtigkeit gesehen als die im Bundesschluss grundgelegte Beziehung zwischen Gott und dem Volke Israel, zu dem Gott in unverbrüchlicher Treue steht. Das Volk Israel soll dem entsprechen in der Treue zum Bund mit Gott und in der Beobachtung der Gesetze und Weisungen der Thora. Joseph Ratzinger schreibt in seinem Jesusbuch: "Gerechtigkeit ist in der Sprache des Alten Bundes der Ausdruck für die Treue zur Thora, die Treue zum Wort Gottes, wie sie immer wieder vom Propheten angemahnt worden war. Sie ist das Einhalten des von Gott gezeigten rechten Weges, dessen Mitte die Zehn Gebote sind. Die neutestamentliche Entsprechung zum alttestamentlichen Begriff der Gerechtigkeit ist der Glaube. Der Gläubige ist der Gerechte, der auf Gottes Wegen geht (Ps 1; Jer 17,5-8). Denn der Glaube ist das Mitgehen mit Christus, in dem das ganze Gesetz erfüllt ist, er eint uns mit der Gerechtigkeit Christi selber" (S. 119).
"Ich aber sage euch!"
Das Wort von der größeren Gerechtigkeit steht programmatisch vor den so genannten Antithesen. Antithesen heißen sie deswegen, weil Jesus den Geboten des Alten Testamentes: "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist" das "Ich aber sage euch" entgegen stellt. Mit dem "Ich aber sage euch" spricht Jesus in einer ihm von Gott verliehenen Vollmacht. Nie hätte ein Schriftgelehrter, wenn er das Gesetz auslegte, ein solches "Ich aber sage euch" aussprechen dürfen, was Blasphemie, Gotteslästerung gewesen wäre. Das "Ich aber sage euch" Jesu erhebt einen hohen Anspruch, weil es in den Antithesen nicht um die Auslegung bestimmter Gesetze geht, sondern um das Gesetz selber, das Jesus auf eine neue, tiefere Weise auslegt. Weil er in göttlicher Autorität spricht, ist er nicht auf menschliche Autoritäten angewiesen, die seine Worte bekräftigen.
Am Ende der Bergpredigt heißt es, dass die Menschen über seine Lehre erschraken, weil er mit Vollmacht lehrte und nicht wie ihre Schriftgelehrten (Mt 7,28 f). Über die Vollmacht Jesu sagt Joseph Ratzinger: "Damit ist natürlich nicht eine rhetorische Qualität von Jesu Reden gemeint, sondern der offenkundige Anspruch, selbst auf der Höhe des Gesetzgebers - auf der Höhe Gottes - zu stehen. Das 'Erschrecken' ist genau das Erschrecken darüber, dass ein Mensch mit der Hoheit Gottes selbst zu sprechen wagt" (S. 134).
Die Erfüllung des Gesetzes.
Jesus will das alttestamentliche Gesetz, die Thora, nicht abschaffen. Der Evangelist Matthäus betont sehr dezidiert, Jesus sei nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt 7,27). Es ist anzunehmen, dass in nichtjudenchristlichen Kreisen, in hellenistischen Gemeinden dem alttestamentlichen Gesetz eine geringe Bedeutung beigemessen wurde. Dem wollte Matthäus offensichtlich entgegensteuern und betonte darum so sehr das "nicht auflösen". Wenn Jesus das Gesetz nicht auflösen, sondern erfüllen wollte, dann ist darunter keine noch genauere Beobachtung gesetzlicher Vorschriften zu verstehen, keine quantitative Vermehrung der Gesetzesvorschriften durch eine noch gewissenhaftere Beobachtung, sondern eine qualitative Steigerung, die die Liebe zum Grundmaß menschlichen Handelns macht. Erfüllen bedeutet: Jesus bringt das Gesetz zur Erfüllung, zur Vollendung, indem er es konsequent auf das Liebesgebot hin auslegt. Die größere Gerechtigkeit ist nicht ein Mehr an Gesetzestreue, sondern ein Mehr an Gottes- und Nächstenliebe.
In der Bergpredigt wird uns gesagt, worin alles wahrhaft menschliche Handeln gründet. In der Liebe. Darum ist die Bergpredigt radikaler als das alttestamentliche Gesetz ("Radikal" kommt her vom lateinischen radix, Wurzel). Die in der menschlichen Liebe wurzelnden Weisungen Jesu stellen an uns einen weit höheren Anspruch als eine Moral, die nur auf den Buchstaben sieht und sich mit einer rein äußerlichen Beobachtung des Gesetzes zufrieden gibt. Paulus sagt im Zweiten Korintherbrief: "Er (Gott) hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig" (2 Kor 3,6, vgl. auch Röm 7,6).
Handeln aus der Grundkraft der Liebe.
In sechs Antithesen konkretisiert Jesus die größere Gerechtigkeit, er zeigt modellhaft an einigen Lebenssituationen, wie ein Handeln, das in der Liebe gründet, auszusehen hätte. Wenn wir bedingungslos zur Versöhnung bereit sind (Mt 5,21-26). Wenn einer dem Ehepartner in einer Liebe zugetan ist, die jede zur Untreue führende Situation vermeidet (Mt 5,27-30). Wenn Jesus der üblichen Laxheit der Männer in der Scheidungsfrage entgegensteuert (Mt 5,31-32). Wenn wir eine Wahrhaftigkeit leben, die keines Schwures bedarf (Mt 5,33-37). Wenn wir dem Gesetz der Vergeltung den Verzicht auf Vergeltung entgegenstellen (Mt 5,38-42).Wenn wir über eine auf Gegenliebe hoffende Liebe hinaus das Wohlwollen auch denen gegenüber aufrecht behalten, die nicht gut an uns gehandelt haben (Mt 5,43-47). Gerade darin können wir uns an Gottes Handlungsweise orientieren, der alle Menschen unterschiedslos liebt.
Radikalisierung des fünften Gebotes
In der ersten Antithese, auf die ich nun näher eingehe, heißt es: "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemanden tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein" (Mt 5,21f.). In dieser Antithese geht Jesus vom fünften Gebot der Sinaigesetzgebung aus. Diese war dem Volk Israel im Bund mit Gott als Rechts- und Sozialordnung gegeben worden, um ein geordnetes Zusammenleben zu gewährleisten. Der Dekalog sollte für Recht und Ordnung in Israel sorgen. So verbietet das fünfte Gebot den Mord und liefert den Mörder dem Gericht aus (Ex 20,13; Dtn 5,17). Verboten und bestraft wird der vollendete Mord. Würden wir es bei der Forderung des fünften Gebotes bewenden lassen, wären die allermeisten Menschen ohne Schuld.
Jesus setzt tiefer an. Dort nämlich, wo der Mord sich anbahnt. Im Herzen des Menschen. Darum haben bei Jesus Zorn und Mord den gleichen moralischen Stellenwert. Dass wir dem Bruder, dem Mitmenschen, nicht einmal zürnen dürfen, bedeutet eine ungeheure Radikalisierung des fünften Gebotes. Ein neues Denken ist angesagt, ein Gesinnungswandel. Jesus ermutigt uns, seinen Weg einzuschlagen, der die Liebe zum alleinigen Maßstab für menschliches Zusammenleben macht. Und deswegen geht Jesus so weit, dass wir, wenn wir uns im Umgang mit unseren Mitmenschen von der Liebe leiten lassen, dem Zorn in unserem Herzen keinen Raum geben. Wie kommen wir aber mit der moralischen Gleichsetzung von Zorn und Mord zurecht? - Eine Überforderung?
Jesus hat die Denkweise und das Verhalten der Menschen indes realistischer eingeschätzt, als es uns zunächst scheint. Er redet von dem, was hinter unserer Stirn vor sich geht, was sich in den Hinterhöfen unserer Seele an unguten Gedanken angesammelt hat, was es in unserem Herzen an destruktivem Denken gibt. Nehmen wir einmal unsere Sprache beim Wort. Da können Worte fallen, die mörderisch klingen. Jemanden kalt stellen, einen über die Klinge springen lassen, einen fertig machen, einen mundtot machen, einen totschweigen. Oder jemand sagt über einen bestimmten Menschen: Den kann ich auf den Tod nicht leiden, der ist für mich gestorben. Es gibt Menschen, die zwar keinen Menschen in physischer Weise umgebracht haben, aber in ihrer Verhaltensweise über Leichen gehen. Wir kennen das Wort vom Rufmord, wenn einer durch üble Nachrede erledigt wird.
Bereit zur Versöhnung.
Matthäus hat der ersten Antithese noch einen Aufruf zur Versöhnung angefügt, der den Gottesdienst betrifft. "Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe" (Mt 5,23f.). Damit soll gesagt werden, dass Gottesdienst feiern und mit andern unversöhnt leben sich schlechterdings ausschließen. Gott lässt sich nicht finden am Mitmenschen vorbei. Das Jesuswort erscheint einleuchtend. Die Zuwendung zum Mitmenschen ist wichtiger, allerdings auch schwerer als alle möglichen Opfer, die wir uns auferlegen. Es kann auch nicht genügen, sich im Herzen mit dem andern zu versöhnen. Wenn wir auch den Gottesdienst nicht unterbrechen können, so sollten wir doch, sobald es sich ergibt, auf den andern zu gehen , sollten wir die Aussöhnung nicht zu lange aufschieben.
Ich schließe mit einem Wort von Lothar Zenetti, der die Unversöhntheit von Christen in Eucharistie und Abendmahl anmahnt.
"Ich lese:
Wenn du weißt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat,
dann lass deine Gabe vor dem Altar, geh und versöhne dich zuerst
dann komm und feiere deinen Gottesdienst.
Ich frage:
Warum hat man dann, wenn das so gesagt ist,
getrennt und unversöhnt das Opfer der Opfer gefeiert,
jahrhunderte lang, und tut es getrennt und unversöhnt
noch heute an jedem Tag neu?"
Martin Stewen (2014)
Karl Gravogl (1999)
Hans Hütter (1996)