Ein großes Wunder
Ein Wunder! Wir können das ganze Evangelium, von A-Z, in einem Wort zusammenfassen. Ephata - wohlklingender, aramäisch: Hephata. Öffne dich! Tu dich auf!
Markus erzählt die Geschichte eines Menschen, der taub und stumm ist. Aber so richtig erzählt Markus die Geschichte auch wieder nicht, weil die Biographie dieses Menschen stumm bleibt. Verstummt! Wurde er taub und stumm geboren? Wurde er von einer schlimmen Krankheit ereilt? Wie konnte er sein Leben meistern? Wir konnte er sich verständlich machen, wie Anteil nehmen am Leben? Jetzt wird er - nur - gebracht. Angeschleppt. Wollte er das? Wurde er womöglich nicht einmal gefragt? Ich bin neugierig. Ich würde ihn gern besser kennenlernen. Schade, keine Spur. Dafür aber eine Momentaufnahme! Jesus berührt einen Mensch, taub und stumm. Eine mütterliche, liebevolle Szene. Ich weiß noch, wie meine Mutter das aufgeschlagene Knie leckte, mit ihrem Speichel den Fremdkörper im Auge wegluschte, Tränen mit ihrem Mund aufnahm. Zärtliche Berührungen wirken Wunder. Hephata! Öffne dich! Tu dich auf!
Mögen Sie Imperative? Obwohl ich sie auch ständig vor mir hertrage, sind sie mir unheimlich. Ich soll lieben. Ich soll barmherzig sein. Ich soll geduldig sein. Und und... Ob ich immer kann, was ich soll? Aber hier sehen wir, wie Jesus bewirkt, schenkt, was geschehen soll. Öffne dich! Tu dich auf! Ein Mensch öffnet sich, befreit von Fesseln, die ihn lange, womöglich zeit seines Lebens, gefangen hielten. Das macht diese Geschichte sogar zu einer Auferstehungsgeschichte, die Geschichte eines ganz neuen Lebens, eines Anfangs, dem ein besonderer Zauber innewohnt. Leider bekommen wir nicht mit, was dieser Mensch hört, was er sagt.
Markus, der toll Geschichten erzählen kann, ein Meister des Wortes, lässt unserem Einfallsreichtum, unserer Phantasie viel Raum. Den ersten Satz der neu gewonnenen Stimme verrät er uns nicht. Den letzten auch nicht. Selbst das größte Wunder braucht die Intimsphäre, die bescheidene Zurückhaltung, eine feine Diskretion. Ich merke, wie unsere Blicke weggelenkt werden - weg von diesem Menschen auf viele andere menschliche Geschichten, Schicksale und Behinderungen. Wir können uns öffnen, wir können hören, wir können reden - wir können verstehen. Evangelium in einem Wort! Eine große Sensibilität und Aufmerksamkeit liegt in diesem Wort: Hephata!
Ich erzähle drei Beispiele aus unserem Leben:
Hephata - ein Ort
Im Jahre 1859 wurde in Rheydt - heute ein Ortsteil von Mönchengladbach - von dem damaligen Pfarrer Franz Balke ein Haus mit dem Namen "Hephata" eingerichtet. Für behinderte junge Menschen, die als "unbildbar" galten und aus allen Rastern gefallen waren. Damals war das in Preußen das erste Haus dieser Art, dem noch viele folgen sollten. Das Leitbild ist aus dem Evangelium abgeleitet: Hephata. Heute ist eine Stiftung daraus geworden, ein umfangreiches Werk der Nächstenliebe. Hephata wird hier übersetzt mit: "Öffne dich für das Leben". Auf der Internetseite dieser Einrichtung lesen wir: "Nicht die Menschen mit Behinderung müssen sich anpassen, sondern die gesamte Gesellschaft muss offener für die Bedürfnisse aller Menschen werden. Generell ist die gesamte Arbeit daran orientiert, Menschen mit Behinderung ein barrierefreies und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen."
Heute, übrigens, feiert eine Einrichtung, die auch den Namen "Hephata" trägt, die 20. Hephata-Festtage. Während wir hier unseren Gottesdienst feiern, feiern sie dort in ihrer "Hephata-Kirche" in Schwalmstadt-Treysa einen Gottesdienst, der auch in Gebärdensprache übersetzt wird. Ein umfangreiches, buntes und schönes Programm geht heute zu Ende. Hephata heißt auch, das Leben zu feiern. Ich finde gut, dass es Orte unter uns gibt, die "Hephata" heißen. Wollen Sie vielleicht einmal unter Google schauen, was es da alles so gibt? Es ist spannend zu sehen, wie ein aramäisches Wort in unseren Stadtplänen auftaucht. Es ist wie ein Ausrufezeichen in einer lauten Welt: Öffne dich für das Leben.
Hephata - eine Klage
Dem Leben öffnen sich nicht nur taube, stumme, behinderte Menschen. Manchmal sind sie dem Leben viel näher als die, die sich selbst als gesund und normal bezeichnen. Wir dürfen heute auch davon reden, dass wir in unserer Gesellschaft ständig wach und aufmerksam sein müssen - und uns trotzdem verschließen. Wir sind dicht, sagen wir - wir machen zu. Das geschieht alltäglich mit gesunden Ohren und gesunden Zungen. Wir könnten hören - und überhören. Wir könnten etwas sagen - und schweigen. Wir könnten etwas fühlen - und fühlen nicht einmal uns selbst. An manchen Tagen schlägt das Leben über uns zusammen. Dabei werden wir einsam. Wir sehen nur noch uns. Während es in uns rumort, verstummen wir. Manchmal fressen wir in uns hinein, was wir nicht sagen können, nicht sagen wollen. Als ob das nicht schon genug wäre: Wir werden taub. Wir spüren das Leben nicht mehr. Trotz Geld, Erfolg und allem, was wir sonst noch so vor uns hertragen. Manchmal halten wir uns nicht mehr aus. Das ist ein Bild für den - Tod. Heute möchte ich das einfach nur sagen. Heute möchte ich das loswerden. Heute möchte ich um Hilfe rufen: Hephata.
Hephata - eine Verheißung
Ich muss jetzt auch an uns als Kirche denken. Uns ist eine gute Botschaft anvertraut, aber sie wächst aus den Formeln heraus, die einmal Sicherheit versprachen, sie entwächst auch den Vorstellungen, die uns einmal vorgegeben wurden. Viele Menschen sehnen sich danach, wieder glauben zu können, sie spitzen ihre Ohren, aber es ist kein Wort für sie dabei. Sie möchten gehört werden, stoßen aber auf Unverständnis und Angst. So ziehen sich viele zurück. Verstummt. Still. Manchmal schleicht sich das Gefühl ein, bei reichen Überlieferungen zu verhungern - und einzugehen.
Dabei ist doch die Kirche der erste - und offene - Raum, in dem das Evangelium gehört werden kann. Hier sollen Menschen, die im übertragenen Sinn taub und stumm - oder zum Verstummen gebracht - wurden, eine Heimat finden. Hier dürfen sie über ihre Sprachlosigkeit reden und auf Menschen stoßen, die ihre Sprachlosigkeit teilen. Ist nicht auch der Pfarrer oft sprachlos? Bischöfe auch? Sie sagen es selten, meistens müssen sie es verstecken. Dabei wäre es so befreiend, das Evangelium im Rücken, Jesu Wort zu hören: Hephata! Direkt danach heißt es: "Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit, und er konnte richtig reden." "Richtig" reden! Das möchte ich gerne!
Zu Jesus bringen
Wie weit doch die Geschichte reicht, die Markus uns erzählt! So viele Facetten, so viele Blickwinkel, so viele Orte! In das Staunen, von dem dann am Ende der Geschichte zu reden ist, gerate ich auch. "Außer sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen."
Entschuldigung, fast hätte ich übersehen, dass in dieser Geschichte Menschen eine Rolle spielen, die nur in einem Nebensatz vorkommen - also untergehen. Traurig, hilflos klingt das: Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus. Wisst Ihr, was wir machen? Wir geben ihnen ein Gesicht! Menschen, die Rat wissen, die Mut haben, die sich nicht beirren lassen. Menschen mit einem großen Vertrauen! Kommt, lasst uns diese Menschen sein!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Norbert Riebartsch (2003)
Bernhard Zahrl (2000)
Hans Hütter (1997)