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In meiner Gymnasialzeit kam jede Woche ein blinder Musiklehrer in unser Internat, um einigen Schülern Klavier- oder Geigenunterricht zu geben. Mich faszinierte an diesem Lehrer am meisten, dass er jeden seiner Schüler erkannte, indem er mit seinen Händen dessen Gesicht abtastete. Jedes Musikübungsstück kannte er auswendig. Unser Internatsleiter erzählte, dass ihm der blinde Musiklehrer einmal eine Stadtführung durch Graz gegeben habe. Ohne selbst zu sehen, zeigte und erklärte er ihm die Sehenswürdigkeiten der Stadt...
Obwohl dieser Mann blind war, "sah" er mehr und manches besser als viele, die mit gesunden Augen durchs Leben gehen.
Im Evangelium des 4. Fastensonntags hören wir von der Heilung eines Blinden und Dialoge, die sich rund um seine Heilung ergaben. Darin begegnet uns ein Mensch, der zu sehen beginnt, obwohl er von Geburt an blind war. Daneben treten Menschen auf, die sehen und doch nicht sehen, weil sie mit ihrem starren Denken nicht wahrnehmen und glauben können, was sie sehen. Sie wollen nicht wahrhaben, was offensichtlich ist. "Es kann nicht wahr sein, was nicht wahr sein darf", ist ihr Leitmotiv. Aus ihren theologischen Grundsätzen leiten sie ab, dass diese Heilung nicht rechtens ist und nicht von Gott sein kann. Der Heilende hat sich nicht an die Sabbatgebote gehalten. Ihm war die Chance, dem Blinden das Augenlicht zu geben, wichtiger als die "Schein-Heiligung" des Sabbats.
Zwischen den Schriftgelehrten, dem Geheilten und Jesus stehen die hilflosen Eltern, die sich von ihrem Sohn distanzieren, um nicht bei den Mächtigen ihrer Religion anzuecken...
Der Evangelist erzählt diese Episode so, dass noch andere Bedeutungsebenen anklingen: Der Blinde sieht, er "sieht" schlussendlich auch, dass der, der ihn geheilt hat, "der Menschensohn" ist. Die Pharisäer sehen das alles und sehen doch nicht. Damit können sie in Jesus auch nicht das von Gott gesandte Licht erkennen, das in die Welt gekommen ist (vgl. Joh 1,9 und Jes 60,1).
In ihrer Weigerung, das durch Jesus gesetzte Zeichen des Wirkens Gottes anzuerkennen besteht auch ihre Sünde. Weil sie sehen, aber das Wirken Gottes nicht sehen wollen, sündigen sie. Jesus kreidet ihnen ihre "Blindheit" als Sünde an, während er sich dagegen verwahrt, das Schicksal des Blindgeborenen auf etwaige Sünden des Betroffenen oder seiner Eltern zurückzuführen.
An Christus glauben
Im Blick auf die Gegenwart macht mich diese Erzählung in dreierlei Hinsicht nachdenklich.
Vor allen anderen Aspekten geht es darin um das Erkennen des Menschensohnes, des Messias und Christus.
In einer Zeit, in der Spiritualität boomt und Religion wieder gefragt scheint, spielt der Glaube an Jesus Christus als Erlöser und Messias in unserer Kultur eine immer geringere Rolle. Was macht die Menschen blind für Christus? Wovon werden sie geblendet, dass sie Christus nicht sehen können? Ist es "das real existierende Christentum", das sie abhält, sich mit seinem Leben und mit seiner Botschaft zu befassen? Sind wir, die wir uns zum Christentum bekennen, mit den Eltern des Blindgeborenen zu vergleichen, die sich herumwinden und ängstlich hinter ihren Antworten verstecken? Sie haben nicht mehr zu sagen als: "Das wissen wir nicht". Unsere Lebensweise macht nur wenige Menschen neugierig zu fragen: Von wem lassen die sich leiten?" An wen glauben die Christen?
Hinderliche Denkmuster
Weiters frage ich mich: Wie weit behindert meine vorgefasste Weltanschauung ein unvoreingenommenes Wahrnehmen des Wirkens Gottes in dieser Welt?
Jesus forderte einmal seine Zuhörer auf, "die Zeichen der Zeit" zu deuten. In den vielen Versuchen, die Zeichen unserer gegenwärtigen Zeit zu deuten, fällt mir auf, wie viele Menschen einfach ihre gewohnten Denkmuster und verinnerlichten Dogmen anwenden und wie schnell sie zu Urteilen gelangen, die weder zu einer vertieften Sichtweise noch zu einer neuen Erkenntnis führen. Meist treten wir auf der Stelle, wenn wir die sog. Zeichen der Zeit diskutieren. Weltanschauungen und Religionen im Besonderen neigen zur Dogmenbildung. Nicht immer verhelfen echte und oft auch nur scheinbare Dogmen zu einer klareren Sicht. Vorgefasste Meinungen können das Aufbrechen alter und verkrusteter Sichtweisen verhindern und den Blick auf die Fakten trüben.
Die Diskussion um die Stellung der Frauen, um eine Neubewertung der Sexualität, um die Lebensform Zölibat, um den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen werden in der kirchlichen Auseinandersetzung als nicht wirklich wichtig abgetan oder mit dem Hinweis auf die Tradition vom Tisch gewischt. Die Frage, ob in den Problemen, die wir als Kirche in all diesen Bereichen haben, uns nicht Gott selbst neue Wege zeigen will, wird von denen, die das letzte Wort haben, erst gar nicht zugelassen.
Positives sehen
Eine dritte Beobachtung macht mich nicht weniger nachdenklich: Viele Menschen neigen dazu, negative Ereignisse sehr schnell dem Wirken Gottes zuzuschreiben. Wenn sie mit Krankheit, Schicksalsschlägen oder Katastrophen konfrontiert sind, fragen sie: "Wie kann Gott das zulassen?" Oder sie sehen darin gar eine Strafmaßnahme Gottes. Wenn hingegen offensichtlich Positives zu verzeichnen ist, kommt ein mögliches Wirken Gottes nur selten in den Blick. Vereinfacht gesagt: Für die Krankheit ist Gott verantwortlich, die Gesundheit verdanken wir uns selbst oder den Ärzten.
Den Medien werfen wir gerne vor, dass sie mehr an schlechten Nachrichten interessiert seien als an guten. Dies gilt wohl mehr noch von uns, den Nutzern der Medien. Wie blind sind wir für das Gute und Positive in der Welt? Hängt das Schwinden von Glaube und Religion in der Öffentlichkeit vielleicht auch damit zusammen, dass wir das Wirken Gottes in der Welt nicht mehr wahrnehmen, bzw. Positives nicht mit ihm in Verbindung bringen? Können wir glauben, dass Gott auch heute noch am Werk ist? Können wir das Gute und Positive sehen oder stimmen wir ohne nachzudenken ein in die Chöre der apokalyptischen Schwarzmaler?
Sehen lernen
Müssen nicht auch wir wie die Pharisäer fragen: "Sind etwa auch wir blind?" Oder müssten vielmehr nicht auch wir Jesus bitten: "Rabbuni, ich möchte (wieder) sehen können?" Dies wäre eine lohnende Aufgabe für die Fastenzeit.